Zu dritt mit dem Taxi nach Leipzig: Leg dich bloß nicht mit Rainald an!
Ein Liebesleidender fährt Taxi. Seine Angebetete hat schon vor längerer Zeit mit ihm Schluss gemacht. Heute hat sie Geburtstag. „Dieser Tag kann dir nichts anhaben“, redet er sich ein, „du bleibst entspannt.“ Ein paar Stunden später sind seine guten Vorsätze vergessen. Denn Rainald (Florian Bartholomäi), so heißt der Mann, der sich offenbar bei allem, was er tut, zwanghaft zusammenreißen muss, hat seine Ex Nicki (Luise Heyer) angerufen und dabei erfahren, dass sie morgen seinen Erzfeind Erik (Trystan Pütter) heiraten wird. „Der Tag soll enden, ich muss allein sein“, verordnet sich der zutiefst getroffene Taxifahrer eine Auszeit. Und dann sitzen da plötzlich drei Polizisten in seinem Wagen und wollen befördert werden. Die drei, Klaus Borowski (Axel Milberg), Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler) und Sören Affeld (Hans Uwe Bauer), haben sich gerade aus einem Polizeiseminar über Gewaltprävention davongestohlen und zwei von ihnen werden heute noch die Theorie in der Praxis anzuwenden versuchen. Der Dritte wird die nächsten Stunden im Kofferraum verbringen. Mit einer einzigen schnellen Bewegung hat jener Rainald dem penetranten Fahrgast professionell das Genick gebrochen. Die Kommissare mutmaßen: ein Mann vom Fach – ein Kollege? Militärische Ausbildung? KSK vielleicht? Wie dem auch sei – gefesselt und ohne Waffe haben die zwei Polizisten ohnehin keine Chance. Also geht es zu dritt mit dem Taxi nach Leipzig. Dort wohnt Nicki. Und dort feiert der verhasste Erik feuchtfröhlich Junggesellenabschied.
Foto: NDR / Marc Meyerbröker
Reminiszenz an den ersten „Tatort“ und an „Taxi Driver“ Travis Bickle
Der tausendste „Tatort“ verpflichtet. Also hat der NDR zwei der beliebtesten Kommissare, Charlotte Lindholm, deren Darstellerin Maria Furtwängler bei der breiten Masse besonders populär ist, und Klaus Borowski, der von Intellektuellen bevorzugt wird, in einem Crossover-„Tatort“ vereint und mit Alexander Adolph einen Autor-Regisseur verpflichtet, der klug analytisch & konzeptionell zu arbeiten weiß und Reihen wie „Unter Verdacht“ oder „München Mord“ auf die Schiene setzte. Und der hat sich gedacht: Der erste „Tatort“ hieß „Taxi nach Leipzig“ (1970) – das könnte man doch zum Jubiläum wörtlich nehmen: „Dass Leute im Taxi sitzen, dass sie nach Leipzig fahren und dass vielleicht gar nicht alle von ihnen dahin wollen.“ Eine nächtliche Fahrt also durch das nun wiedervereinigte Deutschland, ein Deutschland, das sich nicht mehr im Kalten Krieg befindet, in dem Kriege aber dennoch allgegenwärtig sind. Am Steuer ein Elitesoldat, der in Afghanistan gekämpft hat, und auf dem Rücksitz zwei Ermittler, zwei Spitzenkräfte, die dieser potenziellen Killermaschine wenig entgegenzusetzen haben. Ein sinnträchtiges Bild, ein starker Konflikt. Logisch, dass das Ganze ein Thriller werden muss. Das ist schon in den ersten Filmminuten zu erahnen: Was dieser Taxifahrer so denkt („So wie die beiden da stehen, könnte ich sie problemlos töten“), und wie er spricht, roboterhaft wie einer, der weiß, zu was er in der Lage ist, und deshalb versucht, sich selbst zu beruhigen – das verrät nichts Gutes. Genauso wie bei dem unglückseligen Telefonat der Blick am anderen Ende der Leitung, die Angst in den Augen der Frau, die er zu lieben glaubt. Dieser Rainald ist kein böser Mensch. Aber das war „Taxi Driver“ Travis Bickle auch nicht.
Foto: NDR / Marc Meyerbröker
Kotzbrocken denkt um, weiblicher Kontrollfreak bekommt es mit der Angst
Der neue „Tatort – Taxi nach Leipzig“ ist Krimi, Thriller, aber auch psychologisches Kammerspiel. Der Geiselnehmer wird mit Methoden der Deeskalation konfrontiert, die er selbst besser beherrschen dürfte als die beiden Kripo-Beamten, die sich gerade bei Schnittchen & Keksen eher unmotiviert in Sachen Gefährdungsanalytik fortgebildet haben. Borowski arbeitet dennoch optimistisch weiter, versucht mit Worten zu beruhigen. Lindholm setzt dagegen auf Provokation, um jenen Rainald aus seinem Handlungsmuster herauszuholen; sie sieht in ihm einen potenziellen Amokläufer, der kurz vor einem erweiterten Selbstmord steht. Die Psychologie zielt aber nicht nur auf die kriminalistische Lösung des Falls ab, sondern bringt auch die beiden Ermittler, die seit 2002 bzw. 2003 im „Tatort“-Einsatz sind, dem Zuschauer so nahe wie selten zuvor. Dass Borowski ein Kotzbrocken sein kann, hat er gelegentlich bewiesen, dass er es selber zugibt, dies als Grund dafür anführt, dass sich seine Frau von ihm getrennt habe, und dass zwischen ihm und seiner Tochter kein Kontakt besteht, solche Beichten konnte ihm allenfalls Polizeipsychologin Jung in frühen Jahren entlocken. Auch dürfte etwas dran sein an den Allmachtsphantasien, die bei einem so erfolgreichen Kommissar aufkommen können: Ein Mann, der gerade einen Mehrfachmörder dingfest gemacht hat, soll am Abend den Müll herunterbringen?! Weil Borowski erfahren musste, dass dieser Ex-Elitesoldat ihm seine Lügen vom Körper ablesen kann, ist anzunehmen, dass diese Parallele zwischen Rainald und Borowski nicht – der Deeskalation wegen – erfunden wurde. Und auch Lindholm, die auf den Verlassenängsten des Geiselnehmers herumreitet, was beim Kollegen aus Kiel innerlich Groll erzeugt („Die Frau hat die Sensibilität eines Schneeflugs“), bringt sich bald selbst ins Spiel. Zunächst nimmt man an, sie erinnere sich jetzt auch an die Erkenntnisse des Nachmittags, von wegen Empathie zeigen: „Ich habe manchmal das Gefühl, die Welt ist nur für Paare gemacht und wenn man allein ist, ist man ein Mensch zweiter Klasse“, sagt sie. Wenig später sieht man in einer Rückblende in ihre Kindheit die kleine, allein gelassene Charlotte ängstlich nach ihren Eltern rufen. Verlassensängste, Kontrollzwang, der Hang zum Solisten in allen Lebenslagen – so hautnah wird man selten in einem „Tatort“ mit der Psyche der ermittelnden Hauptfigur konfrontiert. Das Besondere dabei ist, dass die Charakterisierungen nicht nur Selbstzweck und Ergänzung zum Krimi sind, sondern dass sie eng mit den Thriller-Momenten verwoben sind und sie sich quasi gegenseitig bedingen.
Foto: NDR / Marc Meyerbröker
„Ich habe mir gedacht, dass wir ein Kammerspiel zwischen diesen Leuten entfachen, viel im Innern des Taxis, wodurch die Beziehungen der Drei zueinander, aber auch ihre völlig widersprüchlichen Gefühle wie unter einem Vergrößerungsglas betrachtet werden können. Und ich habe mir gedacht, dass es ein Thriller werden soll, in welchem die Zuschauer stets mehr über die Situation der handelnden Personen wissen als diese selbst.“ (Alexander Adolph)
„Durch den Horror im Taxi sind Charlottes Abwehrkräfte geschwächt, sie ist verletzt, hat diese Wunde auf der Stirn. Dadurch haben die Dämonen der Kindheit Raum hervorzubrechen. Die große Angst bei ihr heißt Einsamkeit, heißt alleingelassen, heißt verlassen zu werden.“ (Maria Furtwängler)
„Rainald ist eine der tragischsten Figuren, die ich je gespielt habe. Er ist in einer ausweglosen Situation, hat einen hohen Gerechtigkeitssinn und weiß, was er tut. Es war spannend herauszufinden, was bei ihm antrainiertes Verhalten ist und wo lange unterdrückte Gefühle sein Handeln übernehmen.“ (Florian Bartholomäi)
„Wir können den drei Hauptfiguren zuhören, was in ihnen spricht, denkt, fühlt. Borowski ändert seine strategischen Haltungen zu Provokation, zwischen Pragmatismus und Verständnis. Und ihm geht die forsche und überheblich wirkende Kollegin zunächst mächtig auf den Geist. Ihre Todesangst, ihre Hilflosigkeit macht sie zugänglich. Allerdings lässt Adolph am Ende keine große Nähe oder Freundschaft zu. Nichts Kitschiges. Gott sei Dank.“ (Axel Milberg)
Foto: NDR / Marc Meyerbröker
Nichts dem Zufall überlassen: die hohe Kunst des (filmischen) Erzählens
Das ist die Stärke von Filmen, die Reduktion, Konzentration und Verknappung zu ihren Plot- und Stil-Prinzipien erhoben haben. Jedes narrative Element, selbst jedes visuelle Zeichen lässt sich im Idealfall doppelt belegen – als eines, das die Krimihandlung voranbringt, und als eines, das einen psychologischen Subtext entwickelt. Das ist nicht nur ästhetisch raffiniert und elegant, es macht auch die Erzählung dichter, ohne dabei kompliziert sein zu müssen. Wenn wir also Lindholm sehen, ihr Aufgeschrecktsein, die Angst im Blick, dann ist das die Reaktion auf die Geiselnahme, aber ebenso die Furcht, die sie in der Kindheit gehabt hat und an die sie sich „erinnert“. Und die Angst hat noch andere Gesichter in diesem Film. Grundsätzlich kann man sagen: Genre-Kenner Alexander Adolph hat eine Narration entwickelt, in der er nichts dem Zufall überlässt. Dass Lindholm Borowski am Seminar-Büffet das letzte Schnittchen vor der Nase wegschnappt, motiviert fortan seine herzliche Abneigung gegenüber der Kollegin („Quak mich nicht an“). Und dass er als Ersatz zwei Kekse einsteckt, passiert auch nicht ohne Grund. Hier greift ein Rädchen ins andere, aber ohne dass man es immer sofort erkennt. Das ist nicht Genrefilm-Routine, das ist die hohe Kunst des filmischen Erzählens. Grandios ist auch die Idee, die drei Hauptcharaktere für den Zuschauer hörbar denken zu lassen. „Nickis 28. Geburtstag, 19.12 Uhr, das erste Opfer. In 16 Stunden bin ich in Gewahrsam, nein, tot, vier Stunden nach Leipzig.“ Das innere Monologisieren des Taxifahrers ist das Hauptmerkmal der Exposition. Dieser Mann lebt ganz in seiner Welt, kommuniziert vorzugsweise mit sich selbst. Es folgen Intreraktionsversuche, die ins Leere laufen. Als nächstes hört man Borowskis Gedanken. „Ich befehle mir, nicht zu schwitzen“, faucht er sich innerlich an. Wenig später glaubt er, sein Zwischenziel erreicht zu haben: „Jetzt hört er zu, endlich sind die Mundwinkel einmal entspannt.“ Das Miteinander von inneren Monologen und gesprochenen Sätzen machen den besonderen Reiz aus. Auch hier wirkt wieder das Verdichtungsprinzip. Aber auch: Reduktion, Konzentration, Verknappung. So lässt Adolph nicht ständig vielstimmig alle drei im Taxi durcheinander denken und sprechen, sondern unterteilt den Film in Kapitel: nur der jeweils besonders in den Fokus Gerückte darf sich Gedanken machen.
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Nicht zwanghaft „anders“: Adolph übertreibt er es mit keiner der grandiosen Ideen
„Taxi nach Leipzig“ enthält alle Ingredienzien, die ein sehr guter Krimi haben muss, als da wären Mord, Spannung, Psychologie, gesellschaftlichen Subtext, „Verhöre“, tragische Momente, das Überleben der Kommissare etc., er ordnet und verortet sie nur anders im dramaturgischen Ablauf und präsentiert sie in einer ungewohnten, attraktiven Form. Dennoch dekonstruiert Adolph nicht im strengen Sinne, er will weder das Genre zerschlagen noch bewusst gegen den Strich bürsten oder einen ästhetischen Meta-Diskurs anzetteln. Auch ist der Autor offensichtlich nicht verliebt in seine formale Idee. Es geht ihm weniger um das „Experiment“, drei Personen möglichst lange Zeit auf engstem Raum agieren zu lassen; ihn interessiert vielmehr, wie man aus dieser dramaturgischen Extremsituationen größtmögliche Spannung schlägt (psychologische inklusive). Und so übertreibt er es mit keiner seiner grandiosen Ideen. Lindholm, Milberg und ihr Geiselnehmer sitzen also keine 80 Minuten im titelgebenden Taxi nach Leipzig. Es gibt einige Wendungen zur rechten Zeit; emotionale Veränderungen gibt es ohnehin. Mit der Kommunikation, dem Reden über seine Beziehung und seinen Einsatz in Afghanistan, legt Rainald seine roboterhaften Gedankengänge ab, zwar bleibt er eine menschliche Zeitbombe, aber der gefährliche Killer, der er zu Beginn zu sein scheint, ist er am Ende nicht mehr. Die Geschichte verliert dennoch nie an Spannung und erst recht nicht an Intensität. Es sei ihm eine Ehre gewesen, diesen Jubiläumsfall zu schreiben und zu inszenieren, sagt Adolph im ARD-Presseheft. Das sieht man diesem „Taxi nach Leipzig“ anno 2016 deutlich an. „Ehre“, ja alle Ehre macht auch dieser „Tatort“ seinem Anlass.