Im Grunde ist „Sterben und sterben lassen“ kein Krimi, sondern eine Tragödie. Der Film erzählt von gleich mehreren geplatzten Träumen. Hauptfigur ist der österreichische Fernfahrer Niki Pototschnik (Harry Baer), der gemeinsam mit seinem Bruder Hans (Hanno Pöschl) in Berlin ein Restaurant aufmachen möchte. Bei der Rückkehr aus Frankreich kommt es zu einem Unfall mit einem Motorradfahrer. Weil sich eine Frau um den Verletzten kümmert und Niki sich keiner Schuld bewusst ist, fährt er weiter. Außerdem will er verhindern, dass sich die Polizei näher für seine Ladung interessiert: Der halbe LKW ist voll mit deutschen Medikamenten, die Niki im Auftrag seiner Chefin und Geliebten Inge (Margit Saad) aus Spanien schmuggelt. Warum der deutsche Hersteller den Re-Import in Auftrag gegeben hat, haben die Drehbuchautoren aber vermutlich selbst nicht so richtig verstanden. Als Niki Inge in seine Pläne vom eigenen Lokal einweiht und sie ihm einen Kredit verweigert, probiert er es mit Erpressung. Das ist sein Todesurteil: Am nächsten Tag fliegt sein Auto in die Luft. Allerdings hat Niki den Anschlag überlebt, denn im Auto saß sein bester Freund. Er sollte Nikis Flucht vor der Polizei vorbereiten und hatte dessen Papiere dabei; Niki gilt fortan als tot. Um den Mord aufzuklären, müssen die Kommissare Walther & Hassert (Volker Brandt, Ulrich Faulhaber) erst mal eine emotionale Gemengelage aus Sehnsucht nach einem anderen Leben, enttäuschter Liebe und Eifersucht sortieren; derweil streift Niki als „Untoter“ durch die Stadt.
Die interessantere Geschichte ist eine andere. Als Walther zum ersten Mal bei Inges Spedition auftaucht, weil die französische Polizei die Berliner Kollegen um Amtshilfe gebeten haben, kommt ihm ein Angestellter bekannt vor. Der stille Lagerist Max (Vadim Glowna) ist ein etwas bizarr wirkender Typ, der in seinen Katakomben traurige Tangomusik hört. Später fällt Walther wieder ein, woher er den Mann kennt: Maximilian Schrader war vor Jahren mehrfacher Deutscher Meister im Standardtanz, hat die Karriere jedoch nach der Hochzeit seiner Partnerin Inge überraschend beendet; nun tanzt er, wenn überhaupt, einsam und allein in seinem Lager. Immerhin hat er Inge nicht aus den Augen verloren: Sie ist seine Chefin.
Rollen wie diese hat der 2012 verstorbene Vadim Glowna in seiner langen Karriere zu Dutzenden gespielt: Außenseiter, Verdächtige, Verrückte, Mörder. Trotzdem ist Max eine vielschichtigere Figur als Niki, was nicht für das Drehbuch spricht. Auch Nikis Bruder Hans, der zwischenzeitlich aus Wien eingetroffen ist, bekommt nicht viel Tiefe; die beiden Charaktere leben im Wesentlichen von der Ausstrahlung ihrer Darsteller. Harry Baer versieht seinen Niki zwar mit viel Melancholie, kann aber nicht das Potenzial ausschöpfen, das er als langjähriges Mitglied des innersten Zirkels der Fassbinder-Familie oder in der Titelrolle des Syberberg-Films „Ludwig – Requiem für einen jungfräulichen König“ gezeigt hat.
Soundtrack: Randy Newman (“Half A Man”, “William Brown”), Gran Orquestra Tipica (“Inspiración”), Gran Orquestra Buenos Aires (“Nostalgia”), Yves Montand (“Les Feuilles Mortes”)
Foto: RBB
Zu wenig zu tun hat auch Volker Brandt wieder mal, weil die Berliner Kommissare zumindest in den ersten eineinhalb „Tatort“-Jahrzehnten nur Nebenrollen spielten. Walthers markantestes Merkmal neben seiner Stimme (Brandt ist seit jeher die deutsche Stimme von Michael Douglas) ist sein Frauenverschleiß; er ist in jedem Film mit einer anderen liiert, was immer wieder zu netten Szenen führt. Diesmal lernt er eine Taxifahrerin kennen, die Cello spielt; Walther beherrscht das Instrument auch, wie er beweist. Ansonsten aber kommen die Kommissare wie so häufig auch diesmal zu spät, um Schlimmeres verhindern zu können.
Die Umsetzung durch Peter Keglevic ist gleichfalls nicht weiter der Rede wert. In Erinnerung bleiben vor allem zwei Einstellungen gegen Ende: Zunächst inszenieren Regie und Kamera (Gérard Vandenberg) Vadim Glowna mit Hilfe des Lichts wie in einem Bühnenbild; und das Schlussbild zeigt einen Sterbenden im Spotlight. Das Finale ist Keglevic ungleich besser gelungen als etwa eine viel zu lange Tanzszene mit Glowna und Margit Saad im Lager. Weil beide den Tango vermutlich nicht gut genug beherrschten, um als Standardtänzer durchzugehen, wechseln Keglevic und Vandenberg zwischen zwei Einstellungsgrößen: Die eine zeigt nur die Oberkörper der Tanzenden, die anderen Beine und Rumpf, die Köpfe sind abgeschnitten; das hätte sich sicher auch eleganter lösen lassen. (Text-Stand: 17.7.2017)