Tatort – Reifezeugnis

Klaus Schwarzkopf, Lichtenfeld, Petersen, Nastassja Kinski. Der Mythos lebt zurecht

Foto: NDR / TelePress
Foto Tilmann P. Gangloff

„Reifezeugnis“ ist eine der bekanntesten „Tatort“-Episoden. Der Film vom späteren Hollywood-Regisseur Wolfgang Petersen nach dem Buch von Herbert Lichtenfeld handelt von der unglücklichen Liebesgeschichte zwischen einer Schülerin und ihrem Lehrer und machte die junge Nastassja Kinski über Nacht zum Star. Mehr noch als die skandalträchtige Handlung und die aus heutiger Sicht harmlosen kurzen Sexszenen ist es vor allem die handwerkliche Qualität, die den Klassiker-Status des Werks rechtfertigt. Noch immer sehr sehenswert!

Dieser Film aus dem Jahr 1977 ist zumindest bei Menschen, die damals alt genug waren, um die Sonntagskrimis der ARD anschauen zu dürfen, einer der populärsten „Tatort“-Beiträge überhaupt (und entsprechend weit vorn bei den Wiederholungen). Eine ganze Generation pubertierender junger Männer war in die zum Zeitpunkt der Dreharbeiten 15jährige Nastassja Kinski verknallt, was nicht zuletzt mit einer kurzen Nacktszene zusammenhängen könnte. „Reifezeugnis“ machte die Tochter von Klaus Kinski buchstäblich über Nacht zum Star.

Tatort – ReifezeugnisFoto: NDR / TelePress
Nastassja Kinskis Sina beflügelte 1977 die Phantasie der Deutschen und alle waren hin & weg von Klaus Kinskis Tochter. Und wer beneidete nicht Christian Quadflieg!

Bei älteren Zuschauern wird vor allem die skandalträchtige Geschichte die Gemüter erregt haben. Herbert Lichtenfelds Drehbuch handelt von der Liebe zwischen Gymnasiallehrer Fichte (Deutsch, Englisch, Sport) und seiner Schülerin Sina. Christian Quadflieg verkörpert diesen Mann als Bilderbuchlehrer: attraktiv, charmant, witzig und den Schülern sehr zugewandt. Seine romantische Ader sorgt dafür, dass selbst anspruchsvolle Unterrichtsstoffe (Brecht, Frisch) gut ankommen. Auch wenn sich seine Verliebtheit nicht mit der von Sina messen kann: Quadfliegs Spiel legt nahe, dass das Mädchen für Helmut Fichte mehr als bloß ein erotisches Abenteuer ist. Als Sinas Ex-Freund Michael (Marcus Boysen) die beiden beim Schäferstündchen an einem Waldsee beobachtet, will er das Mädchen später zum Sex erpressen; sie wehrt sich und erschlägt ihn mit einem Stein. Ein Zeitungsbericht bringt sie auf die Idee, den Totschlag einem Serienvergewaltiger in die Schuhe zu schieben. Als der Mann kurz drauf stirbt und Sina seine Leiche als Täter identifiziert, scheint die Angelegenheit für alle Beteiligten (außer natürlich für Michael) ein gutes Ende zu nehmen; allerdings ist der Film gerade erst halb vorbei. Prompt komplizieren sich die Verhältnisse: Vor seinem Tod hat Michael einer Mitschülerin von Sina und Fichte erzählt, und die nutzt ihr Wissen, um den Lehrer dazu zu bewegen, ihren Notenschnitt zu verbessern. Der Lehrer wiederum muss sich gegenüber seiner Frau rechtfertigen: Gisela Fichte (Judy Winter), ebenfalls Lehrerin, hat in Michaels Schulheften böse Bemerkungen über das Liebespaar entdeckt. Und dann ist da ja noch der Leiter der Ermittlungen: Für Kommissar Finke (Klaus Schwarzkopf) gab es von Anfang an einige „gefühlsmäßige Unklarheiten“, die sich zur Gewissheit verdichten, als Sina den Mörder identifiziert; der Mann kann gar nicht der Täter gewesen sein.

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Der Ex-Freund (Rolf Boysen) erpresst Sina (Nastassja Kinski) – was ihm gar nicht gut bekommt.

„Frühzeitig kennt man die Täterin. Auf das gängige Ratespiel zu verzichten ist in Kriminalfällen ein heikles Unterfangen, hier geht es gut. Wolfgang Petersens Film lebt nicht von einer sonderlich ausgeklügelten Geschichte, sondern von den bemerkenswerten Psychogrammen der beteiligten Figuren.“ (FAZ, 1977)

Immer wieder wechselt Lichtenfeld („Schwarzwaldklinik“) die Erzählperspektiven; mal steht Sina im Zentrum, mal das Lehrerehepaar, mal die Polizisten. Veredelt wird das Drehbuch durch die Umsetzung von Wolfgang Petersen, der 1977 bereits ein etablierter TV-Regisseur war, wenige Jahr später mit „Das Boot“ (1981) auch internationale Anerkennung erfuhr und schließlich in Hollywood Karriere machte. Der Inszenierung ist anzumerken, wie intensiv damals, als Regisseure noch weit über dreißig Drehtage Zeit hatten, mit den Schauspielern gearbeitet werden konnte: Jede Geste, jeder Blick sitzt. Bildgestaltung und Anschlüsse sind von ähnlich großer Sorgfalt. Die Musik, dominiert von der zu jener Zeit in der Popmusik äußerst populären Querflöte, sorgt dafür, dass man quasi in die Seele der Protagonisten hineinhören kann. Besonders deutlich wird das, nachdem Michael das Liebespaar beobachtet hat und der verwirrte und zornige junge Mann von psychedelischen Klängen regelrecht aus dem Wald getrieben wird. „Reifezeugnis“ ist ein echter Klassiker, der auch fast vierzig Jahre später nichts von seiner Qualität eingebüßt hat und der nach wie vor zu Tränen rührt, als Fichte seiner Schülerin schließlich das Herz bricht. (Text-Stand: 25.8.2015)

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Reihe

NDR

Mit Klaus Schwarzkopf, Christian Quadflieg, Nastassja Kinski, Judy Winter, Rüdiger Kirschstein, Petra Verena Milchert, Marcus Boysen

Kamera: Jörg Michael Baldenius

Schnitt: Karin Wagner

Musik: Nils Sustrate

Produktionsfirma: Studio Hamburg

Drehbuch: Herbert Lichtenfeld

Regie: Wolfgang Petersen

EA: 27.03.1977 20:15 Uhr | ARD

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