Warum nicht schon früher? Der MDR-„Tatort“ mit Saalfeld/Keppler hat sich selten dadurch ausgezeichnet, dass er viel gewagt hätte. Nach 20 Fällen mit einigen Höhen und weit mehr Tiefen hat man sich jetzt zum Finale mal etwas getraut und den Leipzig-Cops einen starken Abgang beschert. Versprach das Duo zu Beginn eine interessante Konstellation mit Entwicklungsmöglichkeiten zu werden – nach Ehe getrennt, beruflich vereint, was den Geschichten zusätzliche Würze hätte geben können – so stagnierte die Fortschreibung der Figuren zunehmend. Autor Sascha Arango ist es zu verdanken, dass man die zwei Ermittler dennoch in guter Erinnerung behält. „Tatort – Niedere Instinkte“ zeigt, was möglich gewesen wäre: Martin Wuttke beweist, wie er spielen kann, wenn man ihm die Möglichkeiten bietet, und Simone Thomalla muss nicht so vehement und penetrant ihre Leidensmiene aufsetzen, auch wenn sie als Eva in der letzten Folge wieder viel auszuhalten und zu verarbeiten hat.
Großfahndung in Leipzig: Ein achtjähriges Mädchen ist am Montag nicht in der Schule angekommen. Die Reaktion der Eltern überrascht die Kommissare Saalfeld und Keppler. Sie haben Tochter Magdalena (Martha Keils) bereits seit Sonntagnachmittag nicht mehr gesehen, wirken nicht sehr schockiert über das Verschwinden und sind sich sicher, dass Gebete und der Glaube an Gott das Ganze zu einem guten Ende führen werden. Als Keppler Magdalenas Schulweg inspiziert, entdeckt er Spuren der Entführung in einem Fußgängertunnel. Ein Massen-Gentest wird vorbereitet. Der Gedanke, dass das Mädchen in einem Versteck mit dem Tode ringt, lässt die Kommissare nicht ruhen. Eine Spur führt zum Haus eines Lehrers des Mädchens: Wolfgang Prickel (Jens Albinus) und dessen Frau Monika (Susanne Wolff).
Sascha Arango, Schöpfer der legendären Sat-1-Krimireihe „Blond – Eva Blond!“, zweifacher Grimme-Preisträger (für „Der letzte Kosmonaut“ & „Zu treuen Händen“) und einer der besten Geschichtenerzähler des deutschen TV-Krimis, hat erstmals einen „Tatort“ für den MDR geschrieben. Und es ist ein Fall, wie er typisch ist für Arango: Eine schräge Geschichte mit teilweise skurril anmutenden Figuren, ein wilder Trip in die Psychohöhle, ein spannender Krimi. Der Autor beweist wieder mal, dass er ein Meister der inneren Ermittlungen der Seele ist. Es geht ihm nicht so sehr darum, wer etwas macht, sondern um das Warum. Die Motive reizen Arango, er spielt gerne mit dem Bösen und setzt dabei auf eine offene Erzählweise, die manchen Zuschauer auch überfordert. Kein Krimi für die konservative „Tatort“-Klientel, eher einer der Grenzen sprengen will, mit Formen spielt – etwa wenn Keppler Ansprachen durch die offene Kühlschrank-Tür in Richtung Publikum hält oder wenn Saalfeld und Keppler zwischendurch ihre Wünsche in Form von kurzen Tagträumen ausleben dürfen.
Claudia Garde hat das filmisch einfallsreich umgesetzt. Sie variiert die Einstellungen, spielt mit Räumen – insbesondere mit dem heimelig ausgebauten Kellerverließ, in dem das Mädchen ein puppenstubenhaft ausgestattetes Kinderzimmer hat, und Carsten Thieles Kamera blickt viel von oben auf das Geschehen. Mit Arango hat die Regisseurin bereits zweimal für den „Tatort“ Kiel zusammen gearbeitet („Borowski in der Unterwelt“ / „Borowski und das Mädchen im Moor“). Sie weiß, was der Autor erzählen will, er weiß, was er ihr als Vorlage geben kann.
Kein Krimi von der Stange, einer, der erzählerische Freiheiten nutzt, der mit Konventionen bricht und der stark figurenorientiert ist. Da ist das tiefgläubige, sektiererische Paar, das Gott vertraut, nicht den Ermittlern; da ist das merkwürdige Entführerpaar, das sich ein Kind greift, weil man selber keines hat – stark und unheimlich gespielt von Jens Albinus und Susanne Wolff; da ist das Ermittlerpaar, das längst keines mehr ist, sich aber immer noch zueinander hingezogen fühlt. Eine raffinierte Paarkonstruktion, die diesem „Tatort – Niedere Instinkte“ zugrunde liegt. Ein emotionaler, ein intensiver Krimi, der nicht nur einen gruselig anmutenden Fall bietet, sondern auch Eva Saalfeld und Andreas Keppler einen Abgang beschert, der durchaus ein wenig nachwirkt… und nachhallt, denn auch die Musik von Colin Towns bleibt im Ohr. Ein Ende mit Schrecken in Leipzig, aber ein sehenswertes. (Text-Stand: 3.4.2015)