Das Publikum lernt Susanne Bonard, die von Corinna Harfouch gespielte Neue im Berliner „Tatort“, als Dozentin im Hörsaal der Polizei-Akademie kennen. Mit dem Richter Kaya Kaymaz (Ercan Karaçayli), ihrem Ehemann, bildet sie nicht nur dort ein eingespieltes Team. „Recht ist nicht das, was Sie sich wünschen. Recht ist das, was Sie durchsetzen“, gibt Bonard den jungen Polizistinnen und Polizisten mit auf den Weg. Bonard hat ein Standardwerk geschrieben und gilt als angesehene Dozentin. Der beeindruckte Malik (Tan Çağlar) nennt sie „Heilige Susanne“, sein Chef Robert Karow (Mark Waschke) begegnet der neuen Kollegin eher reserviert, denn sie habe „zwölf Jahre lang die Welt draußen durchs Fenster beobachtet“. Der Praxisschock hält jedoch nicht lange an, Bonard und Karow erarbeiten sich schnell gegenseitigen Respekt. Souverän, unspektakulär und ohne extreme emotionale Ausschläge spielen Harfouch und Waschke die Phase des Kennenlernens und Abtastens.
Im Berliner „Tatort“ herrscht eine spürbar andere, weniger hitzige Atmosphäre als in den Zeiten, als Meret Becker an der Seite Waschkes zu sehen war und die oft unglückliche, in sich zerrissene Kommissarin Nina Rubin gab. Die ältere, abgeklärte Kollegin Bonard ist dagegen ein echter Kontrast, zumal ihr Privatleben dank warmherzig-humorvoller Ehe-Dialoge und einer sympathisch-schrägen Sohn-Figur (Ivo Kortlang) harmonisch und gefestigt wirkt. Auch Karow tritt nach der vorherigen, sehr persönlichen Episode („Das Opfer“) wie ausgewechselt in Erscheinung: nicht mehr so grob, aufbrausend und zynisch. Trotz der Top-Besetzung: Wer gerade das Rotzige und Raue im Berliner Großstadt-„Tatort“ geschätzt hat, wird von diesem ersten gemeinsamen Fall von Waschke und Harfouch womöglich enttäuscht sein.
Der Tod einer Streifenpolizistin führt die 62 Jahre alte Kommissarin Bonard wieder zurück in die Praxis. Rebecca Kästner (Kaya Marie Möller), eine ehemalige Schülerin, ruft am Abend an und bittet um Hilfe, doch Bonard wimmelt sie ab: Zum einen ist sie abgelenkt durch ein Video, das ihr zugespielt wurde und einen gewaltsamen Übergriff bei einer Praxisübung in der Akademie dokumentiert. Zum anderen hat sie Kästner wegen eines rassistischen Witzes in schlechter Erinnerung. Am nächsten Morgen wird Kästner erschossen in ihrer Wohnung aufgefunden. Am Telefon hatte sie Bonard gebeten, etwas zu bewahren, „ehe es zu spät ist“. Und: „Es ist größer, als ich dachte“, sagte die aufgelöste Kästner. Die Inszenierung von Robert Thalheim („The Billion Dollar Code“, „Am Ende kommen Touristen“) legt zwar nahe, dass ein Selbstmord nicht ausgeschlossen ist. Aber die Polizei findet keinen Abschiedsbrief. Stattdessen entdeckt Kommissar Robert Karow Kästners vierjährigen Sohn Matti (Yvon Sable Moltzen) im Garten, wo sich der Junge versteckt hat. Der getrennt von seiner Frau lebende Vater Paul (Bernhard Conrad) scheint mit dem verstörten Matti überfordert zu sein.
Die zweiteilige Episode „Nichts als die Wahrheit“ thematisiert – nicht zum ersten Mal beim „Tatort“ – Rassismus und rechte Tendenzen (nicht nur) bei der Polizei. Drehbuch-Autor Stefan Kolditz selbst hatte in der NDR-Folge „Verbrannt“ (2015) den realen Fall des 2005 in einer Dessauer Polizei-Zelle verbrannten Guineers Oury Jalloh aufgegriffen. Gemeinsam mit Katja Wenzel – beide hatten bereits bei den Serien „Das Geheimnis des Totenwaldes“ und „Der Überfall“ zusammengearbeitet – erzählt Emmy-Preisträger Kolditz („Unsere Mütter, unsere Väter“) nun aber eine Geschichte, die tatsächlich „größer“ ist und deshalb auch mehr Zeit beanspruchen darf. Dass die Vorbereitungen eines rechten Netzwerks in Polizei, Justiz und Wirtschaft zur Bekämpfung der Demokratie nicht völlig aus der Luft gegriffen sind, liegt auf der Hand. Man denke nur an Themen aus der jüngeren Vergangenheit wie die rechtsextremen Chat-Beiträge von Polizisten oder die Waffenfunde bei ehemaligen Elite-Kämpfern.
Die im Zusammenhang mit den Umsturzplänen der Reichsbürger-Szene verhaftete Richterin und ehemalige AfD-Bundestagsabgeordnete Birgit Malsack-Winkelmann sowie Hans-Georg Maaßen, der ehemalige Chef des Verfassungsschutzes, standen augenscheinlich Pate für eine Figur, die erst in Teil 2 auftaucht. Birge Schade spielt eine Juristin, die stellvertretende Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts werden soll. Aber diese Julia Kirchhoff, die von Thalheim wie eine Politikerin inszeniert wird, bleibt eine plakative Randfigur. Bisher erscheint es – zum Glück – unglaubwürdig, dass sich Kandidatinnen für das Karlsruher Gericht mit populistischer Rhetorik in der Öffentlichkeit zu profilieren versuchen. Aber auch so ist diese Figur am Ende eher eine Schwachstelle, weil sie keinen erkennbaren Bezug zur Handlung hat.
An einen ernsthaft drohenden politischen Umsturz mag man ohnehin nicht glauben. Trotz rechten V-Leuten, Waffensammlung für den „Tag X“ und Todeslisten reicht es nur ansatzweise für einen packenden Verschwörungs-Thriller, aber immerhin für einen ambitionierten und spannenden, wenn auch etwas überladenen Krimi über alltäglichen Rassismus und rechtsextreme Tendenzen auf verschiedenen Ebenen. Gleich zu Beginn wird ein schwarzer Jugendlicher von einer aus lauter Weißen bestehenden Polizeistreife an einem Skatepark willkürlich herausgepickt und kontrolliert. Vor den Augen der erschrockenen Rebecca Kästner reißt sich der Jugendliche los und wird auf der Flucht von einem Auto erfasst. Ein klassischer Fall von „Racial Profiling“, der Kästner dazu veranlasst hat, belastendes Material gegen ihre Kolleg:innen zu sammeln. Auf der Polizei-Akademie wiederum lässt es Ausbilder Götz Lennart (Thomas Niehaus) zu, dass das Rollenspiel einer Verhörsituation eskaliert und der angehende Polizist Ralf (Gustav Schmidt), Sohn des Akademie-Direktors Hans Lompert (Jörg Pose), seinen Mitschüler Max (Baris Gül) schlägt, um eine Information zu erhalten. Lennart greift nicht ein, sondern schaltet nur das Video aus, das dann Susanne Bonard zugespielt wird. Als sie den Vorfall öffentlich machen will, will der Direktor sie in den Vorruhestand abschieben. Immerhin gibt es auch noch Netzwerke anderer Art. Da die befreundete Polizeipräsidentin ihr noch einen Gefallen schuldig sei, kapert Bonard kurzerhand Rubins frei gewordene Stelle – nur für diesen einen Fall, „dann bin ich weg“, erklärt sie dem überrumpelten Karow. Diesen Satz darf man aber nicht allzu wörtlich nehmen.
Weitere Schauplätze sind eine düstere Baustelle, auf der zwei aus Syrien geflüchtete Brüder schwarz beschäftigt sind, und eine große, offenbar florierende Sicherheitsfirma, die sich gerne aus dem Pool unzufriedener Polizist:innen bedient, angeblich um sie zu Einsätzen im Ausland zu schicken. Dass deren Chef Arne Koch (Sebastian Hülk) und Bau-Unternehmer Pätzold (Jörn Hentschel) ebenso zu dem rechten Netzwerk gehören wie Kästners Dienststellenleiter Guido Konrad (Christoph Jöde), ist unschwer zu erraten. Und natürlich mischt auch der Geheimdienst mit. Verfassungsschützer Reitemeier (Tilo Nest) trifft sich mit seinen V-Leuten gerne in Sichtweite des Berliner Regierungsviertels, was wohl unterstreichen soll, wie nahe das rechte Netzwerk der Macht gekommen ist. Spannend wird es insbesondere, als sich Kästners besonders stramm rechts wirkende Kollegin Tina Gebhardt (Bea Brocks) als Undercover-Agentin entpuppt. Bonard ist empört, dass Reitemeier bei einem Verhör Gebhardts auftaucht und der Polizei weitere Ermittlungen verbietet. „Willkommen in der Realität“, kommentiert Karow trocken.
Nicht zuletzt geht es in dem vergleichsweise komplexen, zweiteiligen „Tatort“-Drama um Loyalität und Verrat, um den „Code of Silence“ innerhalb geschlossener Gruppen. Nach zwei weiteren Morden als Cliffhanger am Ende des ersten Teils spitzt sich die Handlung zu und mündet in ein mögliches Attentats-Szenario. Für Spannung ist also durchaus gesorgt, auch wenn der Zweiteiler die hohen Erwartungen, die sich naturgemäß mit einer Verpflichtung von Corinna Harfouch verbinden, nicht ganz erfüllen kann.