Dieser Anblick schockt selbst erfahrene Kommissare wie Inga Lürsen (Sabine Postel) und Nils Stedefreund (Oliver Mommsen): Ein junger Mann wurde nachts von einem Auto überfahren, danach noch mehrmals überrollt und grausam verstümmelt. Am Tatort findet man ein Prepaid-Handy, das auf einen gewissen Kristian Friedland (Moritz Führmann) registriert ist. Als der, ein Maler und Lackierer, auf dem Präsidium vernommen wird, stürmt sein Vater Jost (Rainer Bock) rein und nimmt seinen Sohn mit den Worten „Mittlerweile kennen wir unsere Rechte“ mit nach Hause. Die Ermittler sind irritiert – zumal der „Junge“ bereits Anfang 40 ist. Als kurze Zeit später erneut ein junger Mann überfahren wird, ahnen die Kommissare, dass sie es mit einem Serientäter zu tun haben. Und so bleiben Lürsen & Stedefreund an dem ehemaligen Drogenabhängigen Kristian dran. Der lebt mit der im Rollstuhl sitzenden Tajana (Natalia Belitski) zusammen. Seine Eltern Jost und Leonie (Angela Roy), die an Brustkrebs erkrankt und gehbehindert ist, wollen demnächst nach Kanada auswandern. Mit allen Mitteln versuchen sie, ihren Sohn zu schützen und die Ermittlungen von ihm fernzuhalten. BKA-Kollegin Linda Selb (Luise Wolfram) unterstützt die Kommissare, für die schnell klar ist: Der psychisch gestörte Kristian ist der Täter. Doch sie haben (noch) keine Beweise.
Der „Tatort – Nachtsicht“ ist kein Whodunit-Krimi: Der Täter steht bald schon fest. Doch dem psychopathischen Serienmörder die Verbrechen nachzuweisen, das gestaltet sich für die Kommissare enorm kompliziert, weil er von der Familie beschützt wird. Es ist ein sehr spezieller Fall, den Stefanie Veith und der kürzlich verstorbene Matthias Tuchmann hier entworfen haben. Er erinnert in seiner Abgründigkeit an die „Tatort“-Folgen „Die Geschichte vom bösen Friederich“ oder „Weil sie böse sind“ (hierzu lieferte ebenfalls Tuchmann die Idee). „Die Mordmethode hat Matthias entwickelt“, sagt Veith, „eines Tages wollte er gerade eine Straße überqueren und plötzlich saust ein Auto vorbei, das ihn fast umgefahren hätte. Dieser Schreckmoment hat den Geschichtenerzähler in ihm geweckt: Was wäre, wenn jemand mit Absicht Menschen auflauert, um sie zu überfahren?“. Die Autoren tauchen in dieser glänzend entwickelten und prägnant geschrieben Geschichte in die tiefsten Abgründe des Menschseins ein. Zum einen befassen sie sich mit der Psychologie des Täters: Was ist der Antrieb eines Serienkillers: Trieb, Sucht, Lust, Macht? Und was charakterisiert ihn? Veith: „Zu einem Serien-Mörder gehört das Töten, wie das Jagen zu einem Raubtier gehört.“ Kristians Waffe ist keine Pistole, kein Gewehr, sondern ein Auto. Das kann als Waffe benutzt werden. So wie er es umgebaut hat (mit einem Metallstachel am Wagenboden und einer Glasscheibe, um sehen zu können, wie die Opfer verstümmelt werden), ist es mehr als eine Waffe. Damit tötet er nicht nur, damit kann er seine Fantasien ausleben und sich am Leiden ergötzen.
Autor Matthias Tuchmann starb im Herbst 2016 im Alter von 42 Jahren. Er absolvierte die Filmakademie in Baden-Württemberg und gehörte dem Berliner „Schreibkombinat Kurt Klinke“ an, zu dem u.a. auch Stefanie Veith und Michael Proehl gehören. Mit Letzterem schrieb er auch die erste Folge der von ihm entwickelten Krimireihe „Hannah Mangold & Lucie Palm“, mit Stefanie Veith die Folge „Hannah Mangold & Lucie Palm: Tod im Wald“. Der Tatort „Nachtsicht“ war nach „Alle meine Jungs“ und „Die Wiederkehr“ sein letzter Bremer „Tatort“.
Aber, und das ist das Besondere an dem „Tatort – Nachtsicht“ und macht ihn zu einem packenden und düsteren Psycho- und Familiendrama, die Autoren gehen noch einen Schritt weiter und fragen sich, was bringt Menschen dazu, so ein „Monster“ zu schützen? Familienoberhaupt Jost deckt seinen psychisch gestörten Sohn, hält seine kranke Frau aus allem raus und für sie und sich eine heile Welt aufrecht. Zunächst ahnt er die grausame Wahrheit, später kennt er sie, aber er verdrängt sie. Wie Rainer Bock diesen Mann spielt, der mit einem Lügenkonstrukt die Familie schützen will, zwischen Liebe und Verzweiflung hin- und hergerissen ist und sich seine eigene Wahrheit zurecht zimmert, ist grandios. Bock, national wie international gefragt, er drehte schon mit Tarantino, de Palma, Haneke, Spielberg und Petzold, ist ein Experte für schwierige Rollen, für Charaktere und Persönlichkeiten in psychisch grenzwertigen Situationen. Das beweist er hier eindrucksvoll. Aber auch Angela Roy als seine Frau und Moritz Führmann („Harter Brocken“) als Kristian überzeugen.
Die Story ist düster und brutal. Regisseur Baxmeyer macht daraus ein faszinierendes Psycho-Spiel. Spannung entsteht nicht durch die Mördersuche, sondern durch den Wettlauf der Kommissare gegen die Zeit, um den Täter zu überführen und weitere Taten zu verhindern. Für Baxmeyer ist es bereits seine zwölfte Episode mit dem Bremer Ermittlungsduo. Weniger die Action steht im Vordergrund, auch wenn die Szenen, in denen der Killer mit seinem Auto und einem Nachtsichtgerät auf dem Kopf auf Menschenjagd geht, markant und gespenstisch sind: ein schwarzes, unbeleuchtetes Auto bei Nacht – der Regisseur und sein Kameramann Hendrik A, Kley haben das mit lichtempfindlichen Digitalkameras hervorragend eingefangen. Doch in erster Linie geht es um Konflikte, die sich im Subtext abspielen. Und die werden stark über die Bildebene transportiert: Blicke, Gesten, Bewegungen. Trotz der grausamen Taten empfindet man am Ende ein wenig Mitleid mit dem Täter. (Text-Stand: 17.2.2017)