Ein Mann fällt mitten in der Nacht von einer Brücke und wird von einem LKW überrollt. Jener Werner Holtkamp war zu diesem Zeitpunkt bereits tot. Die Leiche wurde zur Brücke transportiert. Spuren der Tat finden sich im Schlafzimmer des kleinen Häuschens in einer Kölner Vorstadtsiedlung, in dem der geschiedene Mittvierziger lebte – allein, seit ihn seine Frau vor Jahren verlassen und die Tochter mitgenommen hat. Max Ballauf (Klaus J. Behrendt) und Freddy Schenk (Dietmar Bär) befragen die Nachbarn. Mit einem von ihnen, Leo Voigt (Werner Wölbern), lag der Tote in einem erbitterten Nachbarschaftsstreit. Andere Verbindungen versuchen die Bewohner zu vertuschen. Neben den Voigts – Leo lebt mit seiner erwachsener Stieftochter Sandra (Claudia Eisinger), die auffallend unter Heiserkeit leidet und kaum sprechen kann, und deren kleiner Tochter Mira zusammen – sind da noch die Scholtens und das Ehepaar Möbius. Frau Möbius (Birge Schade), von ihrem Gatten (Stephan Grossmann) vernachlässigt, hatte ein Auge auf Holtkamp geworfen. Und Jens Scholten (Florian Panzner) ist der leibliche Vater von Mira und lebt mit seiner Frau Hella (Julia Brendler) und Tochter Paulina direkt neben den Voigts. Mira und Paulina sind beste Freundinnen.
Ein kleines Gruselkabinett wohnt da in unmittelbarer Nachbarschaft. Nach außen ist alles akkurat, freundlich und geordnet. Doch die scheinbare Idylle ist trügerisch und kann für den Einzelnen zur Hölle werden. Das zeigt Autor Christoph Wortberg. Ihn kennt man als Schauspieler (der Frank Dressler im ARD-Dauerbrenner „Lindenstraße“), Schriftsteller („Die Farbe der Angst“) und eben Drehbuchschreiber („Doppelter Einsatz“ / „SOKO Köln“). „Nachbarn“ ist sein erster „Tatort“. Er schickt die Kölner Kommissare in eine Welt, die keine Einblicke gewähren will. Ballauf und Schenk sind Störenfriede. Wenn sie auftauchen schaut man weg oder lässt die Rollläden herunter. „Keiner hat was gesehen oder gehört“, bemerkt Freddy sarkastisch über die Bewohner der waldig gelegenen Siedlung, in der jeder über jeden Bescheid zu wissen scheint. Doch je mehr die Ermittler herumstochern und Fragen stellen, desto mehr kommen bittere Wahrheiten & Lebenslügen ans Licht. Es ist eine interessante und spannende, zuweilen etwas verwirrende Figurenkonstellation, die Wortberg entworfen hat.
In Szene gesetzt hat dieses Nachbarschaftsdrama einer, der höchst versiert ist im Genre Krimi und sich zudem bestens auskennt mit Ballauf & Schenk: Torsten C. Fischer. Der „Tatort – Nachbarn“ ist bereits sein siebter Film mit dem Kölner Duo. Visuell sehr abwechslungsreich lässt Fischer die Zuschauer eintauchen in diese kleinbürgerliche und kleinkarierte Vorstadtsiedlung. Die Häuser, die Wohnungen, die Einrichtungen – all das ist treffend eingefangen, zeigt, wie die Menschen leben und wie sie sich verhalten. Holtkamps Haus beispielsweise: die Räume sind kühl, unbewohnt, abweisend. Die meisten Möbel sind mit einer Plastikfolie bedeckt, auch das Bett, in dem der Mann vor seinem Tod noch Sex hatte und dann erschlagen wurde. Die Kamera schleicht sich durch die Straßen, rein in die Häuser, in die Zimmer. Es ist noch nicht so lange her, da hat der Hessen-„Tatort – Wendehammer“ eine Groteske geliefert über eine Welt, in der der Nachbar des Nachbarn schlimmster Feind ist. Die Kölner Variante ist ein Krimidrama, hier geht es um Menschen, die nach außen ihre Rollen erfüllen, als Einzelne, in der Familie, als Nachbarn, und die ihr „wahres Gesicht“ nur hinter verschlossenen Türen zeigen. Außen- und Innenwelten dieser „Familien“ zeigt Fischer in einer sehr atmosphärischen Inszenierung. Die Tätersuche gerät dabei fast zur Nebensache. Man befasst sich mehr und mehr mit diesen ungewöhnlichen Nachbarschaftskonstellationen. Wie die Kommissare die einzelnen Schichten des komplexen Miteinanders dieser Nachbarn freilegen, ist spannend zu beobachten. Wortberg: „Zutage tritt die Isolation des Einzelnen.“ Und das zeigt Fischer in starken Bildern sowie einem sehr homogenen Top-Ensemble: Werner Wölbern, Claudia Eisinger, Florian Panzner, Julia Brendler, Birge Schade, Stephan Grossmann.
Die Kölner im Dauereinsatz: Es ist bereits der dritte „Tatort“ mit Ballauf/Schenk in den ersten zwei Monaten des Jahres. Durchdachte Programmplanung sieht anders aus. Den Rest des Jahres dürften die Kommissare aus der Rheinmetropole wohl freihaben. Nach „Die Wacht am Rhein“ und dem Karnevalskrimi „Tanzmariechen“ nun also der „Tatort – Nachbarn“. Ganz ohne Wurstbude am Rhein, gedreht in einer Siedlung, die nicht in Köln liegt, sondern in Leverkusen, aber mit – so wie man es von den Kölnern kennt – parallel erzählten privaten Geschichten der Kommissare. Diesmal trifft es Schenk: Der hat Ärger mit einem Nachbarn – und der hat einen Vogel, einen krächzenden roten Ara-Papagei, der den Kommissar um die Nachtruhe bringt. Auch dieser Fall wird gelöst – pointiert! Und Ballauf? Der darf immerhin seine Kollegin und Geliebte Lydia Rosenberg (Juliane Köhler) zu dem Fall hinzuziehen, um einem psychischen Trauma auf die Spur zu kommen. (Text-Stand: 5.3.2017)