7.29 Uhr am Morgen: Ein Telefonanruf reißt Kommissar Murot (Ulrich Tukur) aus seinem Traum, einem abgewandelten „Tatort“-Vorspann, in dem er gerade erschossen worden ist. Murots erster Tod. Man darf wohl sagen: Das ist kein leeres Versprechen, es wird noch zahlreich gestorben werden in Dietrich Brüggemanns „Tatort“, der zwar ganz ohne Murmeltier auskommt, aber seinem Titel, der natürlich auf den Zeitschleifen-Klassiker „Und täglich grüßt das Murmeltier“ verweist, alle Ehre macht. Murots „Murmeltier-Tag“ beginnt also mit dem Anruf von Assistentin Magda Wächter (Barbara Philipp), die ihn telefonisch über einen Banküberfall informiert. „Wer überfällt denn heute überhaupt noch eine Bank?“, fragt der Kommissar ungläubig, verlangt dann aber vom Bett aus, dass sie schon mal die „Routinemaßnahmen“ einleiten soll: „Rettungswagen, SEK et cetera“. Beim nächsten Anruf ordert er, obwohl noch gar keine Forderungen bekannt sind, ein vollgetanktes Fluchtauto und „viel Geld in kleinen Scheinen“. Und am Ort des Überfalls sagt der gelangweilt wirkende LKA-Beamte Murot zum Schutzpolizisten Brendel (Jörg Bundschuh): „Das ist doch eigentlich Routine, nicht wahr? Geiselnehmer – kennste einen, kennste alle.“
Foto: HR / Bettina Müller
Krimi – kennste einen, kennste alle? Eben nicht.
Der legendäre Vorspann der Krimireihe läutet bekanntlich für ein Millionenpublikum eine Fernseh-Gewohnheit am Sonntagabend ein, und auch sonst stellt das Medium täglich eine Vielzahl an Krimis bereit. Fernsehen ist Alltag, Krimi ist Routine, Banküberfälle wegen der besonderen Spannung auf einem klar begrenzten Raum ein beliebtes, immer wiederkehrendes Sujet. Das Fernsehen selbst ist also eine Art Zeitschleife, was Brüggemann hier spielerisch reflektiert, ohne dem plumpen Vorwurf zu folgen: Krimi – kennste einen, kennste alle. „Murot und das Murmeltier“ beweist gerade das Gegenteil, es ist Brüggemanns zweiter „Tatort“ nach der ebenfalls herausragenden SWR-Folge „Stau“. Dass der Autor, Regisseur und Musiker diesmal mit seiner Idee beim HR und dessen Kommissar-Figur Felix Murot gelandet ist, passt perfekt. Seit 2010 testen insbesondere die Murot-Filme die Grenzen der „Tatort“-Reihe aus. Sie gelten, je nach Sichtweise, als grandiose Höhepunkte oder ärgerliche Zumutungen, aber eins ist gewiss: Routine ist von Kommissar Murot nicht zu erwarten. Auch im Film ist es mit der vermeintlichen Routine bald vorbei. Nach einer knappen Viertelstunde geht der Banküberfall, den Murot ganz gelassen über die Bühne bringen wollte, blutig zu Ende. Und dann? Schreckt Murot wieder in seinem Bett hoch, es ist 7.29 Uhr, das Telefon klingelt, Wächter meldet einen Banküberfall…
Kommissar und Geiselnehmer – zwei Schicksalsgenossen
Film-Helden, die in immer wiederkehrenden Zeitschleifen gefangen sind, sind keine Seltenheit. Fürs Kino wurden neben dem „Murmeltier“-Klassiker mit Bill Murray noch eine Reihe weiterer Produktionen in verschiedenen Genre-Varianten realisiert. Insofern mag der Zeitschleifen-„Tatort“ ungewöhnlich für die Reihe sein, aber ein einzigartiges Experiment ist „Murot und das Murmeltier“ auch wieder nicht. Im deutschen Fernsehen spielte zuletzt Bjarne Mädel in der Tragikomödie „Wer aufgibt ist tot“ den Handelsvertreter Paul Lohmann, der mehrfach die letzten Stunden vor einem Autounfall durchlebt, um zu einer Art inneren Einsicht zu gelangen. Denn so eine Zeitschleife erleben Film-Protagonisten ja nicht zum Spaß, auch wenn der Humor ein wichtiger Faktor ist. Am Ende muss es eine Art Katharsis geben, eine Läuterung des Helden. Wie beim nur auf sich selbst bezogenen Handelsvertreter Lohmann, wie beim von Bill Murray gespielten zynischen Wettermoderator Phil Connors. Bei „Murot und das Murmeltier“ trifft der von der täglichen Routine gelangweilte Kommissar auf einen Schicksalsgenossen, den blassen, verschwitzten, ziemlich rätselhaften Geiselnehmer Stefan Gieseking (Christian Ehrich). Von Murot aufgefordert, die Geiselnahme zu beenden und mit ihm einfach nach draußen zu gehen, antwortet Gieseking: „Was soll ich da? Da draußen ist jeder Tag derselbe, das mache ich nicht mehr mit.“
„Als Filmemacher schaut man sich viele Demobänder von Schauspielern an, und man sieht immer dasselbe: Verhöre, Kommissare, Geständnisse. Es ist immer dasselbe, und es ist niederschmetternd. Die Idee, genau diesen Krimi-Overkill dahin zurückzutragen, wo er herkommt, lag wirklich sehr nahe. Ich sehe den Film aber nicht nur als Meta-Krimi, sondern auch als einen ganz normalen Tatort, denn es gehört ja zu den Qualitäten der Marke, dass vom ganz normalen Leben in Deutschland erzählt wird. Und das sieht eben meistens genau so aus: Man steht jeden Morgen auf, fährt um dieselbe Zeit an denselben Ort, trinkt mit denselben Kollegen denselben Kaffee und führt dieselben Gespräche. Von diesem Zustand und von der Frage, ob man aus dieser Schleife aussteigen oder gar den Sinn darin finden kann, handelt der Film. Und ein riesengroßer Klamauk ist es natürlich obendrein.“ (Dietrich Brüggemann, Buch, Regie, Musik)
Foto: HR / Bettina Müller
Der Ausweg aus der Zeitschleife: Alle müssen überleben
Auch Gieseking ist in einer Zeitschleife gefangen, jedenfalls begrüßen sich Murot und der Geiselnehmer schon bald wie alte Bekannte. Gieseking aber hat daran Gefallen gefunden. „Ich sterbe jeden Tag, und genau dadurch bin ich unsterblich“, sagt er. Und zum Glück gibt es ja das Internet. Wenn er alle Videos im Netz anschaue, reiche das für 78.000 Jahre, hat er ausgerechnet. Was für eine deprimierende Aussicht. Die Läuterung von Kommissar und Geiselnehmer besteht nun darin, pathetisch gesprochen, den Wert des Lebens wieder schätzen zu lernen, die vielen Momente wieder wahrzunehmen, in denen sich jeder Allerweltstag eben doch unterscheidet. In Murots Worten: „Jeder Tag ist ein Geschenk.“ Um die Zeitschleife verlassen zu können, das begreift der Kommissar irgendwann, muss nicht nur er überleben, sondern auch alle anderen – was zuvor tagtäglich auf ganz verschiedene Arten missraten ist. Die clevere Auflösung besteht also darin, endlich einen unblutigen Kriminalfall zu erzählen und all die zuvor gestorbenen Tode einfach ungeschehen zu machen. Murot muss zuvor in mehreren Anläufen herausfinden, wer dieser Geiselnehmer eigentlich ist, was ihn und seine an der Geiselnahme beteiligte Freundin Nadja Eschenbach (Nadine Dubois) antreibt. Bei allen kuriosen und aberwitzigen Wendungen gibt es also eine klassische Ermittlung und ein den Anforderungen des Krimi-Genres entsprechendes Finale. Und das eigentliche Ziel ist hier weniger, ein Verbrechen aufzuklären, sondern es überhaupt zu verhindern. Das ist doch wahrhaftig mal eine Sinn stiftende, befriedigende TV-Polizei-Arbeit.
Ein gutes Dutzend Episoden, und kein Tag ist wie jeder andere
Die Zeitschleife widerspricht zwar jeder Vorstellung von Realismus, und das Genre bietet buchstäblich fantastische Freiheiten, aber in der eigenen, fiktionalen Logik muss der Film dennoch „realistisch“ bleiben. Soll heißen: Wenn jemand Murot eine Kugel in den Kopf jagt, dann lebt er nicht fröhlich weiter, sondern stirbt tatsächlich seinen Filmtod. Nur dass er hier im nächsten Augenblick wiederaufersteht, natürlich unversehrt. Gleichzeitig führt das zu einer klaren Struktur. „Murot und das Murmeltier“ ist gewissermaßen in ein gutes Dutzend Episoden eingeteilt, die sich mal ähneln, mal krass unterscheiden. Kein Tag ist wie jeder andere, das erzählt Brüggemann allein schon in den zahlreichen Details des sich mehrfach wiederholenden Murot’schen Alltags mit viel Sinn für Situationskomik. Auch die Joggerin (Katharina Schlothauer), der er im Flur begegnet, der Nachbar (Daniel Zillmann), der ihn mit lauter Musik nervt, die Mutter (Anna Brüggemann) und das Kind, das ihm vor der Haustür vor die Füße läuft, und die Punkerin (Desiree Klaeukens), die an der Ampel die Scheiben seines Autos putzen will, erleben jeden Tag unterschiedlich – und überleben auch nicht in jedem Fall.
Foto: HR / Bettina Müller
Die Variation der Todesarten gehört zum Vergnügen
Die Komik, die dadurch entsteht, dass alle anderen Figuren außer Murot und der Geiselnehmer von einer Zeitschleife nichts wissen, kostet Brüggemann vor allem am Einsatzort vor der Bank aus. Diese Szenen sind wunderbare Miniaturen, Parodien auf die immer gleichen Inszenierungen im Fernsehkrimi sowie die üblichen Dialoge zwischen Kaffee trinkenden Polizisten und schwer bewaffneten SEK-Beamten. Das ganze Brimborium wird gleichzeitig gebrochen durch einige skurrile Einfälle, etwa die mit Emojis bemalten Zettel, die die Überwachungskameras verdecken, oder die Kontaktaufnahme per Papierflieger. Gleichzeitig weiß Brüggemann durchaus die nötige Spannung heraufzubeschwören, wenn Murot das erste Mal, allein und unbewaffnet in die Bank geht. Dann dreht der Regisseur auch musikalisch auf, dann lässt er die vom HR-Sinfonieorchester eingespielte eigene Komposition zu einem Dramatik versprechenden Gewitter anschwellen. Alles scheint gut zu laufen. Murot überredet die mit einer Armbrust bewaffnete Nadja zur Aufgabe, überwältigt auch ihren blassen Freund, befreit alle Geiseln, doch beim Verlassen der Bank hat es sich Nadja anders überlegt. Nebenbei: Empört die Leichen zu zählen, macht natürlich keinen Sinn. Die Gewalt ist das dramaturgisch notwendige Ende jeder Episode und verheißt einen Neuanfang statt eines „echten“ Todes. Und die Variation der möglichen Todesarten gehört hier wie in jeder schwarzen Komödie zum Vergnügen.
Eine tolle Vorlage für Ulrich Tukurs Spielfreude
„Murot und das Murmeltier“ sei der anstrengendste „Tatort“ gewesen, den er je gedreht habe, sagte Hauptdarsteller Ulrich Tukur in einem Interview. Kein Wunder, bedenkt man die zahlreichen sich ähnelnden Szenen, die er mit kleineren und größeren Variationen immer wieder spielen musste. Jeden Tag durchlebt Murot in einem anderen geistigen und körperlichen Zustand, diese Achterbahnfahrt ist eine tolle Vorlage für Tukurs Spielfreude. Brüggemann treibt das Zeitschleifen-Spiel gewitzt auf die Spitze. Murot ist irritiert, total durcheinander, zwischendurch entschlossen und aufgeräumt, dann wieder voll rasender Wut und betrunken. An einem Tag erschießt er sich, kaum aufgewacht, gleich wieder selbst. Er ermittelt im Bademantel, geht dem lauten Nachbarn an die Gurgel, springt aus dem Fenster oder wird selbst zum Geiselnehmer. Und am siebten Tag möchte er ruhen, „erschießt“ sein Telefon, verweigert den Dienst, fährt in Freizeitkleidung aufs Land und wirft der unschuldigen Kellnerin im Café eine Torte ins Gesicht, denn: „Ich kann machen, was ich will.“ Was ist Freiheit? Was bedeutet ewiges Leben? Dieser „Tatort“ ist ein grotesker Spaß mit Hintersinn.