Eben erst zur Hauptkommissarin ernannt, bekommt Julia Grosz (Franziska Weisz) schon ihre erste Bewährungsprobe als Einsatzleiterin einer äußerst brisanten Polizeiaktion. Hauptakteur ist ein verdeckter Ermittler, mit dessen Hilfe einem in Hamburg lebenden russischen Waf-fenhändler (Wladimir Tarasjanz) das Handwerk gelegt werden soll. Doch der Neffe des Patriarchen (Jakub Gierszal) kommt dem VE mit einer Planänderung: Es soll im Privatjet zur Geschäftsabwicklung nach Zypern gehen. Die Nervosität in der Polizeizentrale steigt; doch Grosz bricht den Einsatz nicht ab. Auf dem Flughafen hat Falke (Wotan Wilke Möhring) ein letztes Mal Kontakt mit dem befreundeten Polizisten. Wenige Stunden später ist der Kollege tot und mit ihm die gesamte Besatzung – an Bord war eine Bombe. Jetzt soll die Nichte des Waffenhändlers, Marija (Tatiana Nekrasov), die sich von der kriminellen Familie losgesagt hat, retten, was zu retten ist. Als Wiedergutmachung ist sie vor Jahren zur Polizei gegangen und arbeitet im verdeckten Außendienst – nach ihren eigenen Regeln. Das wird sich auch bei diesem Fall nicht ändern. Die eigenwillige Polizistin hat einen guten Grund, weshalb sie sich von Grosz und der Kriminaldirektorin (Judith Rosmair) einspannen lässt: Sie möchte herausfinden, wer ihren Bruder, der mit im Flieger saß, auf dem Gewissen hat. Sie zweifelt daran, dass ihr Onkel eines Geschäftes wegen ein geliebtes Familienmitglied opfern würde.
Niki Steins „Tatort – Macht der Familie“ beginnt rasant. Die Beförderung der Kommissarin, die hochoffizielle Trauerzeremonie für einen toten Polizisten und die Einführung des verdeckten Ermittlers werden miteinander verschnitten, bevor die Einsatzbesprechung in medias res der bevorstehenden Polizeiaktion geht. Die Kollegen in der Einsatzzentrale und mit ihnen auch die Zuschauer werden auf den neuesten Informationsstand gebracht. Mit Gespür für Erzählökonomie geht es in die Zugriffsaktion, die Stein minutiös schildert und dadurch das Nervenaufreibende dieser Situation spürbar macht. Grosz ist fahrig, die Dinge scheinen ihr zu entgleiten – und dann noch diese obercoole Kriminaldirektorin im Nacken. Kollege Falke hält sich zwar zurück, aber er hätte mit seiner Erfahrung sicherlich einiges anders gemacht. Die adrenalingeschwängerte Spannungssequenz ist ein gelungener Einstieg, der auch dem Flow des Films guttut. Und wenig später gibt ja auch noch die russische Kamikaze-Agentin das leise Versprechen, dass dieser Krimi zumindest mit einem Hauch „Killing Eve“ weitergehen könnte. Die Figur ist unberechenbar, wird gleich doppelt beschattet und von Tatiana Nekrasov („Tatort – Borowski und das Haus am Meer“), bisher nur in Nebenrollen besetzt, überzeugend verkörpert als eine Frau, die immer auf dem Sprung und aufs Schlimmste gefasst ist.
Trotz prachtvoller Locations, einem stimmigen Cast, ganz bewusst ohne große Namen, mit russischen Kriminellen ohne die obligatorisch kahl rasierten Schädel, dafür mit viel eitler Hochkultur im Kopf, trotz eines knalligen Finales mit Heckenschützen & Treibjagd der brachialen Art und der vielversprechenden Episodenhauptfigur hält dieser „Tatort“ nicht, was sein packender Einstieg verspricht. Mag die politische Dimension dieser fiktiven und teilweise recht grob geplotteten Geschichte am Ende ein aktueller Seitenhieb in Richtung auf die verbrecherischen Praktiken eines Vladimir Putins sein und sind auch Tschechow oder Tolstoi zitierende Russen ein hübsches Krimifiguren-Accessoire am Rande, so läuft doch die Geschichte dramaturgisch nicht gerade rund. Die Verfolgungs- und Abhöraktionen wiederholen sich, und so richtig voran geht die Erzählung im Mittelteil nicht. Auch die Beziehung von Falke und Grosz besaß schon mal feinere Zwischentöne. Die beiden befinden sich im Stand-by-Modus, ermitteln einen unbekannten Dritten und haben genug damit zu tun, auf die russische Polizistin zu „reagieren“, bei der man nicht genau weiß, auf wessen Seite sie am Ende stehen wird. Klingt alles nicht schlecht, es gibt auch einige eindrucksvolle Zwei-Personen-Szenen, bei denen – der Wanzen sei Dank – die Polizei mithören darf. Doch die Ausführung insgesamt ist Niki Stein bei „Macht der Familie“ weniger gut gelungen als in vielen seiner bisher achtzehn „Tatort“-Episoden (darunter die ersten drei nur als Autor).
Ein Grund dafür dürfte auch das Drehen unter Pandemiebedingungen gewesen sein. Stein musste das Drehbuch umschreiben, die Szenen „entvölkern“, und offenbar aus einem Film mit relativ viel Action & Komparserie ein Kammerspiel machen. Auch eine solche Konzentration auf die Figuren, muss nicht das Schlechteste sein. Allerdings ist diesem „Tatort“ anzumerken, dass Stein hier deutlich mehr auf Handlung setzt als auf Charaktere und Figurenpsychologie. Von der „Macht der Familie“ mag sich durchaus etwas vermitteln; allerdings verglichen mit beispielsweise dem Jubiläums-„Tatort – In der Familie“ bleibt die Familienbande in diesem Film eher grob gerastert. Die Szenen werden häufig nur kurz angerissen. So ergibt sich eine extrem kleinteilige Narration. Der Eindruck der Zerfaserung wird noch verstärkt durch die – sicherlich Corona-bedingten – Rückblenden, Film-im-Film-Situationen und das gelegentliche Aufbrechen des chronologischen Erzählens. Was in anderen Filmen für eine willkommene dramaturgische Abwechslung sorgt, das kann in dieser hohen Frequenz auch ermüdend wirken. Zur Ehrenrettung muss gesagt werden, dass diese Zersplitterung der Handlung ein Stück weit zum Sujet und Subgenre passt. Grosz und Falke wissen nicht, was sie erwartet. Nur eines ist sicher: Der Fall, der für die Bundespolizei eine Nummer zu groß ist, wird nicht zu dem erhofften Schlag gegen das organisierte Verbrechen führen. (Text-Stand: 20.3.2021)