Ein Nachbar hört einen Schuss, dann bricht ein Brand in der Wohnung über ihm aus. Dort findet die Polizei in einem sorgfältig abgedichteten und deshalb unversehrten Zimmer eine Tote. Susanne Kramer (Ilona Thor) liegt erschossen auf einem Bett, bekleidet mit einem roten Hochzeitskleid, daneben eine alte Pistole. An die Zimmerwand hat jemand rätselhafte Warnungen gepinselt: „Der Teufel spricht zu ihnen durch die Wände. Er ist ganz nah. Er wird sie holen.“ Der abstoßende Nachbar Gernot Schaballa (Aljoscha Stadelmann), der unheimliche Tatort mit den vielen Kinderpuppen und die Farbe Rot lösen bei Kommissarin Liv Moormann (Jasna Fritzi Bauer) einen Flashback in die eigene Kindheit aus. Aber als sie sich wieder gefangen hat, ist für sie der Fall gelöst: „Selbstmord, ganz klar.“ Ihre etwas seltsame, über jeden Leichenfund stets aufs Neue begeisterte Kollegin Linda Selb (Luise Wolfram) ist da anderer Ansicht. Außerdem stellt sich bald heraus, dass beide Töchter von Susanne Kramer nach Schul-Ende verschwunden sind.
Foto: RB / Claudia Konerding
Mit der Episode „Liebeswut“ knüpft Regisseurin Anne Zohra Berrached an die schöne „Tatort“-Tradition an, die üblichen Krimi-Pfade auch mal zu verlassen und den nüchternen Realismus durch eine ganz eigene ästhetische Welt zu ersetzen. Und Berrached, die 2017 für das Familiendrama „24 Wochen“ den Deutschen Filmpreis gewann und 2022 der Wettbewerbsjury der Berlinale angehörte, scheut keine Überzeichnung und keine große Geste. Ganz in Rot leuchtet der Bildschirm zu Beginn, knallig-rot springt der Titel ins Auge, und das Hochzeitskleid der Toten wirkt wie in Blut getränkt. Ohnehin durchzieht die auffällige Farbsymbolik den gesamten Film. Jeder Raum wird in ein andersfarbiges Licht (Roland Knitter) getaucht, dazu sorgen das oftmals chaotisch-üppige Szenenbild (Irene Piel), die kraftvolle Akzente setzende Musik (Jasmin Reuter, Martin Glos, Christian Ziegler) und die stark überzeichneten Figuren dafür, dass man sich in einer der Fantasiewelten von Wes Anderson, Jean-Pierre Jeunet oder David Lynch wähnt.
„„Es ist mein dritter Tatort und ich habe mir vorgenommen, kein Blatt vor den Mund zu nehmen, direkt, unmittelbar und laut, unsere Geschichte zu erzählen. Wie in allen meinen Filmen möchte ich tief in die Seele von Menschen schauen. (…) Anders als bei meinen bisherigen Filmen ist mir bei diesem der Realitätsanspruch egal. Wie im amerikanischen Kino ist es mir wichtig, einen guten und spannenden Genrefilm zu erzählen, der die Figuren strahlen lässt. Ich habe keine Angst sie manchmal zu überhöhen, wenn ich sie doch immer menschlich zeige. Ich habe sie so gezeichnet, weil ich der Überzeugung bin, dass uns Figuren anziehen, die unperfekt handeln. Vielleicht weil sie etwas in uns spiegeln, dass wir selbst nicht immer in einer (zum Glück!) von Norm und Regeln geprägten Gesellschaft ausleben können.“ (Anne Zohra Berrached, Regisseurin)“
Das gilt insbesondere für diesen unappetitlichen Gernot Schaballa, den Aljoscha Stadelmann mit einem atemberaubenden Mut zur Hässlichkeit als kindliches, Eis schleckendes Monster im bekleckerten Unterhemd spielt. Schaballa scheint Moormann im Treppenhaus geradezu aufzulauern, um die junge Kommissarin in seine vermüllte Höhle, pardon, Wohnung, zu ziehen. Kein Wunder, dass er auch in ihren unvermittelt auftretenden Erinnerungen auftaucht. Die kleine Liv (Lotta Herzog) wird zum Streitobjekt zwischen ihrer Mutter und Schaballa, beide zerren an ihren Armen. Gleichzeitig scheint sich die Kommissarin zu dem seltsamen Vogel, der mit seiner im Rollstuhl sitzenden Mutter zusammenlebt, hingezogen zu fühlen. Ähnlich chaotisch und unwirklich sieht die Wohnung von Jaqueline Deppe (Milena Kaltenbach) aus, der neuen Lebensgefährtin von Thomas Kramer (Matthias Matschke). So wie Schaballa eine Muttersöhnchen-Karikatur und ein Sinnbild männlicher Verwahrlosung ist, ist die quietschbunte Jaqueline Deppe eine Karikatur weiblicher Rollenbilder – beide auf ihre Weise in einer infantilen Phase hängen geblieben.
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Aber auch die Spannung kommt in dieser grellen, mit großem Stilwillen inszenierten, dritten „Tatort“-Episode des neuen Bremer Teams nicht zu kurz. Die Suche nach den beiden Kramer-Töchtern setzt die Polizei unter Zeitdruck. Burkhard Dobeleit (Thomas Schendel), der Vater der Toten, hält seinen Schwiegersohn für den Teufel. Aber dieser Thomas Kramer, den Matthias Matschke so zappelig wie in der „Heute-Show“ spielt, macht nicht den Eindruck übermäßiger Raffinesse. Verdächtig macht sich ohnehin erst einmal Schul-Hausmeister Joachim Conradi (stark: Dirk Martens), den Selb dabei erwischt, wie er aus der Kiste mit den Fundsachen eine Kinderstrumpfhose herauszieht und daran schnuppert. Allerdings baumelt der Hausmeister bald an den Seilen von der Turnhallen-Decke und die Kinder bleiben verschwunden. So ist bis zum Finale für Tempo und Thrill gesorgt, auch wenn es an der einen oder anderen Stelle an der Logik hapert. Zum Beispiel können Verdächtige durch metallene Falltüren, die sich nur mühevoll und unter lautem Quietschen öffnen lassen, wohl kaum lautlos und in Windeseile verduften. Aber in einem Film, der bewusst auf detailgenauen Realismus pfeift, fällt das nicht allzu schwer ins Gewicht.
Aber wo ist Dar Salim, der in den ersten beiden Filmen den ehemaligen dänischen Undercover-Ermittler Mads Andersen gespielt hat, der in Bremen einen Neuanfang versucht? Ist der dänische Schauspiel-Star etwa schon wieder ausgestiegen? Nein, teilt der Sender Radio Bremen mit. Das Trio Bauer, Wolfram und Salim werde sich bald im „Tatort“ wiedersehen. Es sei jedoch eingeplant, „dass die Terminkalender der drei und der der Produktion nicht immer zueinander passen“. Thematisch sei es auch nicht immer sinnvoll, alle gemeinsam ermitteln zu lassen. „Je nach Drehbuch und Dramaturgie kann der Film auch stärker werden, wenn zwei Ermittler die Story tragen“, erklärt ein RB-Sprecher. Tatsächlich vermisst man Salim alias Andersen in „Liebeswut“ nicht sonderlich. Anne Zohra Berrached kann sich ganz auf die sich langsam entwickelnde Beziehung der beiden Kommissarinnen konzentrieren. Das genügt vollkommen in diesem überbordenden Drama. (Text-Stand: 28.4.2022)