In der Wirtschaft wird schwäbisch geschwätzt. Erst als der Pfarrer zwei Fremde hereinbringt, verstummt der Schwarm. „Ohne Kopf bleibt hier“, bestimmt Bootz (Felix Klare) und präpariert zwei Streichhölzer. Ermittler-Risiko: Wer das ohne Kopf zieht, muss in der Provinz bleiben, der andere darf mit Lannerts Porsche nach Stuttgart zurück. Freiwillig will hier keiner übernachten. Auch nicht Kommissar Lannert (Richy Müller). Der Einstieg des aktuellen „Tatort“ aus Stuttgart variiert die beliebte Geschichte vom Ermittler aus der Stadt, der unter dem Jesuskreuz an der Wand eines tristen Gastzimmers seufzend in die viel zu weiche Matratze sinkt. Lannert erträgt es stoisch. Hineingeworfen in eine bigotte Welt, in der Schuld und Sühne an jedem Tisch sitzen, bewirbt sich das Stuttgarter „Tatort“-Duo erneut um Platz eins im Ranking der unaffektierten Ermittler. Gut so, da weiß man, worauf man sich in den folgenden 90 Minuten konzentrieren kann.
Foto: SWR / Benoît Linder
Die ermordete Hanna Riedle stammt aus einer Wirtsfamilie. Sie hinterlässt ihren verzweifelten Vater Hannes (Moritz Führmann), ihre strenge Mutter Luise (Julika Jenkins) und eine teilnahmslos erscheinende jüngere Schwester (Irene Böhm). Stück für Stück erweitert die Erzählung die Kreise der Verdächtigen im Dorf und in der Stadt, in der Hanna neu anfangen wollte. Geschickt streuen Drehbuchautor Norbert Baumgarten und Regisseur Andreas Kleinert kleine Verdachtsmomente in die Dialoge zwischen Ermittler und Hannas Bekannte ein. Hier ein nervöses Fingerzucken, dort ein Grinsen, das Ungesagtes verrät. Im Zentrum bleibt Hannas Mutter. Wenn sie das Dorf verlasse, sei die Tochter für sie gestorben. Das waren ihre Worte im letzten Streit. Zwischen Selbstdisziplin und -zerstörung spielt Julika Jenkins diese Frau. Ihre Augen verlieren oft jedes Licht. Wo Angela Winkler einst rohen Fisch in sich hineinfraß, um kein Kind zu bekommen, da will Luise nach dem Tod ihrer Tochter am liebsten an Knödeln ersticken. Harmlos ist Luise nicht.
Foto: SWR / Benoît Linder
Kleinert spielt behutsam mit Ton und Farbe. Akustisch bestimmen perkussive Effekte die Szenerie. Als Lannert und Bootz die Gastwirtschaft von Hannas Eltern betreten, klingt es als falle ein schwerer Ball zu Boden und würde leiser werdend in die Ecke rollen. Das Motiv kehrt wieder. Trommelwirbel begleitet die Rückblende auf einen Trainingslauf von Hanna, Paukenschläge die Verfolgung eines Verdächtigen. Das Ticken einer Uhr ertönt, wenn Luise Riedle ihre tote Tochter erscheint. Aus den dunklen Grundfarben all dieser Sequenzen sticht in einer Rückblende giftgrün der beleuchtete Rasen des dörflichen Sportplatzes hervor. Hier drehte Hanna ihre Runden. Sie war die Schnellste, übte das Wegrennen. Auch ihre kleine Schwester trainiert schon. „Warum hat sie mich im Stich gelassen“, lautet Emmas Gegenfrage an die Ermittler, die sie erst gar nicht zu Wort kommen lässt.
Zum Ende teilt sich „Tatort – Lass sie gehen“ in zwei Erzählstränge. Der eine folgt einem Drama, das die toxische Mutter-Tochter-Beziehung ins Rollen gebracht hat, der andere einer neuen Spur. Auf der dreht sich jetzt alles ins Licht. Im Kommissariat dunkeln Lamellen vorm Fenster noch etwas ab, wenig später aber baden die Bilder förmlich im Licht. In der Stadtbibliothek Stuttgart – einer tollen Kulisse – bewegt sich Lannert mit Krücken durch die weiße Welt einer cleanen, modernen Stadtarchitektur. Durch die Blessur, die ihm die aktuellen Ermittlungen eingebracht haben, verlinkt die Figur des Ermittlers elegant die zwei Welten, die sich im 33. Stuttgart-Fall begegnen. Einer wird noch über Lannerts Krücke stolpern. Ein anderer wird erkennen, dass der Teufel eine Frau ist. Und die Klügste wechselt die Richtung.