Es wird eng für Moritz Eisner (Harald Krassnitzer): Er liegt gefesselt in einer alten Lagerhalle, ein Mann drückt ihm eine Waffe in die Hand und feuert damit auf eine tote Frau. Es soll so aussehen, als ob der Oberstleutnant sie erschossen habe. Und auch er soll sterben, höhnisch kommentiert von seinem Mörder: „Ein würdiger Abgang in Erfüllung der dienstlichen Pflicht. Bevor das Alter, die Pensionierung oder irgendein anderer banaler Umstand Ihrem Image ernsthaften Schaden zufügen können. Also dann, Eisner! Dienstschluss!“ Schnitt. Der ORF-“Tatort“ ist für seine dramatischen und zuweilen visuell auch schonungslosen Einstiege bekannt. Dieser ist für Wien-Verhältnisse sogar relativ harmlos und dennoch bedrohlich inszeniert. Wie es ausgeht, darauf muss man aber knapp eineinhalb Stunden warten.
Es geht ein paar Tage zurück. Ein Mann wird auf der Straße von einem fetten SUV überfahren. Kein Unfall, denn das Auto setzt danach nochmal zurück, um ihn zu überrollen und endgültig zu töten. Wer am Steuer sitzt, das sieht man nicht. Und auch Moritz Eisner und Bibi Fellner (Adele Neuhauser) – wie immer tatkräftig und pointiert unterstützt von Assistent Fredo (Thomas Stipsits) – tappen im Dunkeln. Es stellt sich heraus, dass das Opfer aus dem Gerichtsgebäude kam, mit einem Freispruch in der Tasche. Peter Simon (Christian Schiesser), ein namhafter Vertreter der Alternativmedizin und Mitgründer des Unternehmens „Medicina Lenia“, war angeklagt, seine Tochter vernachlässigt zu haben und sich, nachdem diese erkrankte und er eine schulmedizinische Behandlung ablehnte, am Tod des Mädchens schuldig gemacht zu haben. Der Mutter des Kindes, die Ecuadorianerin Maria Ana Moreno (Sabine Timoteo), die in einem Container haust, hatte er das Sorgerecht entziehen lassen. Hat sie ihn jetzt aus Rache getötet? Hinzu kommt, dass die Frau zu den terroristischen ELN-Befreiungsarmeekreisen ihres Landes gerechnet wird und dem Verfassungsschutz bekannt ist.
So informieren sich Moritz und Bibi bei ihrem alten Freund Schubert (kleine aber feine Rolle für Dominik Warta), den sie so gerne als „Korinthenkacker“ titulieren. Wir wären nicht im ORF-“Tatort“, wenn der die Ermittler nicht mit einem trocken-witzigen Satz begrüßen würde: „Ich habe umgeschult, von Korinthenkacker auf Klugscheißer“. Treffer! Im Lauf der Ermittlungen geraten die Wien-Cops mitten in einen mit fanatischer Härte geführten Glaubenskrieg zwischen traditioneller Schulmedizin und alternativen Heilmethoden. Es geht um die Sehnsucht vieler Menschen, Krankheiten sanft und naturnah zu heilen. Und darum, wie das schamlos und zynisch auf einem gnadenlosen Markt ausgeschlachtet wird – das Geschäft mit der Gesundheit. Die ist auch Moritz Eisner abhanden gekommen, womit wir bei der kleinen Rahmengeschichte des Leids der Kommissare wären, ein Markenzeichen des Wien-Krimis: Eisner leidet unter einem Hexenschuss, bekommt in der Röhre eines MRT Platzangst, schleppt sich unter Schmerzen durch den Fall und wenn er mal zur Ruhe kommt, steht Bibi ihm mit Trost spendenden Worten bei, als sie ihn bei einem Nickerchen im Büro erwischt: „Kein Wunder, dass dein Kreuz im Eimer ist, wenn du auf dem Folterdiwan da pennst …“.
Es sind wieder herrlich pointierte Dialoge, die sich durch den „Tatort – Krank“ ziehen. Wenn Verfassungsschützer Schubert Eisner fragt: „Nie Che Guevara gelesen?“, dann kontert der: „Nein, T-Shirt hat gereicht“ und deutet auf das Kleidungsstück. Das schafft Lockerheit in diesem eher ernsten Fall um erschütterte Familienmitglieder, überzeugte Heilspropheten, skrupellose Geschäftemacher und entlarvte Scharlatane. Rupert Henning hat „Krank“ geschrieben und in Szene gesetzt. Er ist eine feste Größe bei den Austria-Ausgaben der Reihe. Von ihm stammen die Folgen „Grenzfall“, „Schock“ und „Virus“, für den BR hat er 2019 die Folge „One Way Ticket“ beigesteuert. Er greift meist brisante gesellschaftspolitische Themen auf, umfangreiche Recherche sind oft klar erkennbar. Er zählt zu den Filmemachern, die Sachen auf den Punkt bringen. Auch bei diesem Duell Schulmedizin contra Alternativmedizin, das er als erbitterten Kampf um Marktanteile und Umsätze zeigt, bei dem es keine Trennung in Gut und Böse gibt und die moralischen Grenzen verschwimmen. Und da er gerne auch politische Themen bedient, gibt es noch ein wenig ecuadorianische Befreiungskampf-Geschichte. Auf die hätte man gut und gerne verzichten können. Denn der Fokus des Krimidramas zielt auf eine ethisch-moralische Frage: Ab wann darf man eingreifen, wenn Eltern eine wichtige, medizinische Behandlung ihres Kindes ablehnen? Inszenatorisch versteht es Henning bestens, den Fall zuzuspitzen, zu verdichten, er nimmt einen Ausschnitt des Finales vorweg, mündet dann spannungsgeladen im kompletten Showdown.
Was auch bei diesem ORF-„Tatort“ auffällt: Man arbeitet erneut bei der Besetzung nicht mit dem einen (oder anderen) großen Namen, sondern setzt eher auf ein stimmiges Ensemble, aus dem keiner der Darsteller herausragt. Die Akteure sind – und das ist als Lob für die schauspielerische Arbeit zu verstehen – in erster Linie Funktionsträger für die Geschichte, die bei Rupert Henning immer am wichtigsten ist und auch diesmal mit einer Botschaft verbunden ist. Im Mittelpunkt stehen die Ermittler, weil sie in ihrer schon oft beschriebenen Figuren-Zeichnung Moral, Gefühl, Verstand und Intuition vereinen, und all das fein dosiert einbringen. Nimmt man noch Thomas Stipsits als tapsigen, witzigen und lokal geerdeten Assistenten Fredo hinzu, dann bildet das Trio die zentrale Kraftquelle des Austria-Krimis, der diesmal nach dem Prinzip „Moritz in Not, Bibi als Schutzengel“ funktioniert. Und der Schlussgag, der Eisners Not aufnimmt, steht symbolisch für das, was die Ösi-Cops seit Jahren auszeichnet und unersetzbar macht: trockener Witz & gelungene Überraschungen. (Text-Stand: 10.10.2020)