„Ich weiß, was ich weiß.“ Ellen Berlinger (Heike Makatsch) ist außer sich. Staatsanwältin Winterstein (Abak Safaei-Rad) hat einen Fall ad acta gelegt, der für die Kommissarin sonnenklar ist. Der befreundete Kollege Martin Rascher (Sebastian Blomberg) versucht, die Situation zu beruhigen. Berlinger hat sich in seiner Abwesenheit tatsächlich nicht professionell verhalten und immer wieder die Befragungsregeln missachtet. Andererseits wundert auch Rascher sich über die rigide Art, mit der die Staatsanwältin den Fall abbügelt. Eine steinreiche Witwe, die an einem Insulinschock gestorben sein soll, die einzige Freundin als allein Begünstigte und deren neue „Liebe“, ein dreißig Jahre jüngerer Ex-Knasti als möglicher Tatverdächtiger – das sollte ermittlungstechnisch zumindest einige Fragen aufwerfen. Oder stolpert die Kommissarin über ihre eigenen Vorurteile? Sie begründet ihr „Wissen“ mit Intuition: „Es war wie ein Blitz, eine Erkenntnis, ich hab’s gesehen … Gewaltbereitschaft, Gerissenheit, Angst, fast schon Panik.“ All das erkannte sie in den Augen von Hannes Petzold (Klaus Steinbacher), diesem Gelegenheitsjobber, der sich womöglich von beiden Frauen aushalten ließ, dem Diabetes kranken Biest Bibiana Dubinski (Ulriche Krumbiegel) und der naiv verliebten Charlotte Mühlen (Michaela May). Aber kann ein liebender Vater, der für den Sohn (Linus Moog) ernsthaft Verantwortung übernehmen will, ein eiskalter Killer sein?
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Der „Tatort – In seinen Augen“ von Tim Trageser („Neufeld, mitkommen!“ / „Die Lehrerin“) ist eine Art Meta-Ermittlungskrimi. Ständig werden die Bedingungen der Ermittlungen und deren Verlauf mitreflektiert. Dabei übernimmt Kommissar Rascher nicht nur die Moderatoren-Rolle zwischen den beiden unversöhnlichen Frauen, der Staatsanwältin und seiner Kollegin, sondern agiert zugleich als Supervisor, der Berlingers Vorgehen bei den Ermittlungen nach Unkorrektheiten abklopft: Formaljuristisch habe sie den mutmaßlichen Gigolo nicht zum Sachverhalt befragt, sondern unautorisiert eine Vernehmung vorgenommen, und auch im Falle von Charlotte Mühlen habe sie sich nicht immer korrekt verhalten. Das könnte vor Gericht zum Bumerang werden. Kein Wunder also, dass die Staatsanwältin so ungehalten reagiert. Als die Akte geschlossen ist, bleibt Berlinger dennoch an Petzold dran und holt sich ein blaues Auge. Die letzte Hoffnung ist Mühlen. Nur wenn sie ihr Alibi zurückzieht, könnte sich in dem Fall noch etwas bewegen. Also setzt Berlinger die verunsicherte Frau unter Druck. Auch nicht die feine Art. Aber mit der kommt man eben nicht immer weiter. Das muss auch Rascher erkennen, der bald noch lädierter als die Kollegin im sommerlichen Mainz ermittelt.
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Platzwunde und Armschlinge sind kein Zufall, sondern erfüllen nebenbei eine wahrnehmungspsychologische Funktion. Da der Film nicht chronologisch erzählt ist, sondern immer wieder durch die Zeit springt (was den Meta-Charakter noch verstärkt), sorgen sie nebenbei für eine zeitliche Einordnung. Vor allem aber verdichtet die flexible Mischung der Zeitebenen die überschaubare narrative Konstruktion und die eher simple psychologisch-kriminalistische Grundsituation. Darüber hinaus beteiligt die Dramaturgie den Zuschauer aktiv an der Geschichte – was weit über das konventionelle Mörderratespiel eines Ermittlerkrimis hinausgeht. Verantwortlich für diesen Bruch mit den „Tatort“-Gepflogenheiten ist Thomas Kirchner. Der Drehbuchautor und Schöpfer des „Spreewaldkrimis“ hat die Chronologie sprengende, assoziative Narration in der ZDF-Ausnahme-Reihe in Verbindung mit den mystischen Stoffen zur Perfektion getrieben. Bei diesem – seinem vierten – „Tatort“ bedarf es einer gewissen Eingewöhnungszeit. Ein weiterer narrativer Vorteil hilft dabei allerdings: So können über die gesamten neunzig Minuten immer wieder kleine Spots auf diese merkwürdige Dreiecksgeschichte geworfen werden, kann das Drama zur Brücke für den Krimifall werden.
Der Sprung durch die Zeiten dämpft auch ein wenig den anfangs leicht nervig ausagierten Zweikampf zwischen Kommissarin und Verdächtigem und den sich möglicherweise anbahnenden Zickenkrieg zwischen Kommissarin und Staatsanwältin. Berlinger, die im Verlauf ihrer weiteren „Tatort“-Episoden sicherlich eine schwierige, „anstrengende“ Person bleiben wird, aber diesmal weniger egozentrisch als bisher das Geschehen bestimmt, beißt sich mal wieder fest, legt Selbstzweifel an den Tag und kann ihre Versagensängste nur schwer abschütteln. Aber alles bleibt im erträglichen Rahmen. Ähnlich wie bei Thorsten Krüger, Christian Redls eigenbrötlerischem Kommissar aus den „Spreewaldkrimis“. Im Übrigen auch ein Ermittler, der sich auf seine Intuition verlässt; allerdings äußert sie sich bei ihm eher in Form von Visionen, von magischen Erscheinungen. Von daher passt es, Thomas Kirchner zum Autor vom „Tatort“ Mainz zu machen, um so Heike Makatschs spröder, etwas sperriger Kommissarin mehr als bisher eine universale psychologische Grundierung mitzugeben. Angenehmer Ruhepol ist auch im dritten gemeinsamen Einsatz Sebastian Blombergs Martin Rascher. Einer, der ganz anders ist als Berlinger, ein analytischer Geist, ein kritischer Fragensteller, der sich dennoch bestens mit seiner Kollegin versteht. Emotionale und mentale Gegensätze nicht zu Konflikten aufzubauschen, sondern sie in einem dialektischen Miteinander aufgehen zu lassen, könnte die besondere Stärke dieses Duos werden.