Tatort – In seinen Augen

Makatsch, Blomberg, May, Steinbacher, Kirchner, Trageser. Zeitsprünge & Meta-Krimi

Foto: SWR / Daniel Dornhöfer
Foto Rainer Tittelbach

Ellen Berlinger ist außer sich. Sie findet es skandalös, wie die Staatsanwältin einen Fall ad acta legt, der für sie sonnenklar ist: Eine steinreiche Witwe, die an einem Insulinschock gestorben sein soll, ihre Freundin als allein Begünstigte und deren neue „Liebe“, ein dreißig Jahre jüngerer Ex-Knasti als möglicher Tatverdächtiger – da muss man doch weitermachen! Doch die Kommissarin hat Ermittlungsfehler begangen. Im „Tatort – In seinen Augen“ (SWR / Zieglerfilm Baden-Baden) werden die Bedingungen der Ermittlungen und deren Verlauf ständig mitreflektiert. Dabei übernimmt Kommissar Rascher nicht nur die Moderatoren-Rolle zwischen Staatsanwältin und Kollegin, sondern agiert zugleich als Supervisor, der Berlingers Vorgehen bei den Ermittlungen nach Unkorrektheiten abklopft. Fall und Psychologie wirken auf den ersten Blick simpel, doch die Dramaturgie macht das Ganze zunehmend komplexer. Der Film ist nicht chronologisch erzählt, sondern springt immer wieder durch die Zeit. Verantwortlich für diesen Bruch mit den „Tatort“-Gepflogenheiten ist Thomas Kirchner. Der Autor und Schöpfer des „Spreewaldkrimis“ hat die Chronologie sprengende, assoziative Narration in der ZDF-Ausnahme-Reihe perfektioniert. So erfährt man nicht erst – wie in den meisten Ermittlerkrimi – im Showdown, was Sache ist, sondern man wird früh Augenzeuge der Vorgeschichte. Das benötigt etwas Eingewöhnungszeit. Aber das war bei Makatsch als „Tatort“-Kommissarin ja nicht anders. Mit Blomberg jedenfalls gibt es eine Zukunft…

„Ich weiß, was ich weiß.“ Ellen Berlinger (Heike Makatsch) ist außer sich. Staatsanwältin Winterstein (Abak Safaei-Rad) hat einen Fall ad acta gelegt, der für die Kommissarin sonnenklar ist. Der befreundete Kollege Martin Rascher (Sebastian Blomberg) versucht, die Situation zu beruhigen. Berlinger hat sich in seiner Abwesenheit tatsächlich nicht professionell verhalten und immer wieder die Befragungsregeln missachtet. Andererseits wundert auch Rascher sich über die rigide Art, mit der die Staatsanwältin den Fall abbügelt. Eine steinreiche Witwe, die an einem Insulinschock gestorben sein soll, die einzige Freundin als allein Begünstigte und deren neue „Liebe“, ein dreißig Jahre jüngerer Ex-Knasti als möglicher Tatverdächtiger – das sollte ermittlungstechnisch zumindest einige Fragen aufwerfen. Oder stolpert die Kommissarin über ihre eigenen Vorurteile? Sie begründet ihr „Wissen“ mit Intuition: „Es war wie ein Blitz, eine Erkenntnis, ich hab’s gesehen … Gewaltbereitschaft, Gerissenheit, Angst, fast schon Panik.“ All das erkannte sie in den Augen von Hannes Petzold (Klaus Steinbacher), diesem Gelegenheitsjobber, der sich womöglich von beiden Frauen aushalten ließ, dem Diabetes kranken Biest Bibiana Dubinski (Ulriche Krumbiegel) und der naiv verliebten Charlotte Mühlen (Michaela May). Aber kann ein liebender Vater, der für den Sohn (Linus Moog) ernsthaft Verantwortung übernehmen will, ein eiskalter Killer sein?

Tatort – In seinen AugenFoto: SWR / Peter Porst
Aber was ist ein Alibi schon wert von einer Frau, die diesen Hannes Petzold (Klaus Steinbacher) anhimmelt?! Bekommt Berlinger die ältere Dame (Michaela May) Marke graue Maus geknackt? Die psychologische und kriminalistische Problemlage scheint in diesem „Tatort“ nicht allzu kompliziert zu sein. Doch Ereignisse um die merkwürdige Staatsanwältin, das nicht chronologische Erzählen und eine peppige, pointierte Inszenierung mit einigen (fast amüsanten) Signal-Szenen machen aus „In seinen Augen“ einen ungewöhnlichen „Tatort“, der sich trotz seiner Brüche mit den Sehgewohnheiten sehr gut weggucken lässt.

Der „Tatort – In seinen Augen“ von Tim Trageser („Neufeld, mitkommen!“ / „Die Lehrerin“) ist eine Art Meta-Ermittlungskrimi. Ständig werden die Bedingungen der Ermittlungen und deren Verlauf mitreflektiert. Dabei übernimmt Kommissar Rascher nicht nur die Moderatoren-Rolle zwischen den beiden unversöhnlichen Frauen, der Staatsanwältin und seiner Kollegin, sondern agiert zugleich als Supervisor, der Berlingers Vorgehen bei den Ermittlungen nach Unkorrektheiten abklopft: Formaljuristisch habe sie den mutmaßlichen Gigolo nicht zum Sachverhalt befragt, sondern unautorisiert eine Vernehmung vorgenommen, und auch im Falle von Charlotte Mühlen habe sie sich nicht immer korrekt verhalten. Das könnte vor Gericht zum Bumerang werden. Kein Wunder also, dass die Staatsanwältin so ungehalten reagiert. Als die Akte geschlossen ist, bleibt Berlinger dennoch an Petzold dran und holt sich ein blaues Auge. Die letzte Hoffnung ist Mühlen. Nur wenn sie ihr Alibi zurückzieht, könnte sich in dem Fall noch etwas bewegen. Also setzt Berlinger die verunsicherte Frau unter Druck. Auch nicht die feine Art. Aber mit der kommt man eben nicht immer weiter. Das muss auch Rascher erkennen, der bald noch lädierter als die Kollegin im sommerlichen Mainz ermittelt.

Tatort – In seinen AugenFoto: SWR / Daniel Dornhöfer
So entspannt sind Berlinger (Heike Makatsch) und Rascher (Sebastian Blomberg) in ihrem dritten gemeinsamen „Tatort“ nur selten. Der Fall wirft viele Fragen auf, und die Ermittlungen der Kommissarin waren formaljuristisch nicht einwandfrei.

Platzwunde und Armschlinge sind kein Zufall, sondern erfüllen nebenbei eine wahrnehmungspsychologische Funktion. Da der Film nicht chronologisch erzählt ist, sondern immer wieder durch die Zeit springt (was den Meta-Charakter noch verstärkt), sorgen sie nebenbei für eine zeitliche Einordnung. Vor allem aber verdichtet die flexible Mischung der Zeitebenen die überschaubare narrative Konstruktion und die eher simple psychologisch-kriminalistische Grundsituation. Darüber hinaus beteiligt die Dramaturgie den Zuschauer aktiv an der Geschichte – was weit über das konventionelle Mörderratespiel eines Ermittlerkrimis hinausgeht. Verantwortlich für diesen Bruch mit den „Tatort“-Gepflogenheiten ist Thomas Kirchner. Der Drehbuchautor und Schöpfer des „Spreewaldkrimis“ hat die Chronologie sprengende, assoziative Narration in der ZDF-Ausnahme-Reihe in Verbindung mit den mystischen Stoffen zur Perfektion getrieben. Bei diesem – seinem vierten – „Tatort“ bedarf es einer gewissen Eingewöhnungszeit. Ein weiterer narrativer Vorteil hilft dabei allerdings: So können über die gesamten neunzig Minuten immer wieder kleine Spots auf diese merkwürdige Dreiecksgeschichte geworfen werden, kann das Drama zur Brücke für den Krimifall werden.

Der Sprung durch die Zeiten dämpft auch ein wenig den anfangs leicht nervig ausagierten Zweikampf zwischen Kommissarin und Verdächtigem und den sich möglicherweise anbahnenden Zickenkrieg zwischen Kommissarin und Staatsanwältin. Berlinger, die im Verlauf ihrer weiteren „Tatort“-Episoden sicherlich eine schwierige, „anstrengende“ Person bleiben wird, aber diesmal weniger egozentrisch als bisher das Geschehen bestimmt, beißt sich mal wieder fest, legt Selbstzweifel an den Tag und kann ihre Versagensängste nur schwer abschütteln. Aber alles bleibt im erträglichen Rahmen. Ähnlich wie bei Thorsten Krüger, Christian Redls eigenbrötlerischem Kommissar aus den „Spreewaldkrimis“. Im Übrigen auch ein Ermittler, der sich auf seine Intuition verlässt; allerdings äußert sie sich bei ihm eher in Form von Visionen, von magischen Erscheinungen. Von daher passt es, Thomas Kirchner zum Autor vom „Tatort“ Mainz zu machen, um so Heike Makatschs spröder, etwas sperriger Kommissarin mehr als bisher eine universale psychologische Grundierung mitzugeben. Angenehmer Ruhepol ist auch im dritten gemeinsamen Einsatz Sebastian Blombergs Martin Rascher. Einer, der ganz anders ist als Berlinger, ein analytischer Geist, ein kritischer Fragensteller, der sich dennoch bestens mit seiner Kollegin versteht. Emotionale und mentale Gegensätze nicht zu Konflikten aufzubauschen, sondern sie in einem dialektischen Miteinander aufgehen zu lassen, könnte die besondere Stärke dieses Duos werden.

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Reihe

SWR

Mit Heike Makatsch, Sebastian Blomberg, Michaela May, Klaus Steinbacher, Ulrike Krumbiegel, Abak Safaei-Rad, Jule Böwe, Linus Moog, Virginia Obiakor

Kamera: Eckard Jansen

Szenenbild: Holger Sebastian Müller

Kostüm: Susanne Roggendorf

Schnitt: Andreas Althoff

Musik: Andreas Weidinger

Redaktion: Ulrich Herrmann

Produktionsfirma: Zieglerfilm Baden-Baden

Produktion: Marc Müller-Kaldenberg

Drehbuch: Thomas Kirchner

Regie: Tim Trageser

Quote: 7,59 Mio. Zuschauer (29,9% MA)

EA: 26.06.2022 20:15 Uhr | ARD

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