Eine Pizzeria in Dortmund könnte ein Umschlagplatz für jede Menge Kokain sein. Das Restaurant geht nicht gut, aber regelmäßig kommen Lieferungen an, die vor Ort umgeladen werden. Für Faber (Jörg Hartmann) ist der Fall klar. Doch das sind Vermutungen, denn trotz einer aufwändigen Abhöraktion, die nicht einmal „von oben“ genehmigt ist, gibt es keine Beweise, und Kollegin Bönisch (Anna Schudt) möchte sich lieber „im Rahmen des üblichen Handlungsspielraums“ bewegen. Diesen Gehorsam der Staatsanwaltschaft gegenüber findet Faber zum Kotzen und so baldowert er mit Nora Dalay (Aylin Tezel) einen riskanten Plan aus. Die junge Kollegin soll versuchen, Juliane (Antje Traue), die deutsche Ehefrau des Pizzeria-Besitzers zu einer Aussage gegen ihren Mann Luca Modica (Beniamino Brogi) und damit auch gegen die ‘Ndrangheta, die kalabrische Mafia, zu bewegen. Doch die Frau weiß zu wenig. Was wäre also, wenn sie der Polizei Beweise beschaffen würde? Dann könnten Faber & Co bei der nächsten Lieferung zuschlagen. Das Team steht unter Zugzwang, da die Münchner Kommissare Batic (Miroslav Nemec) und Leitmayr (Udo Wachtveitl) auf der Matte stehen, um über ein Amtshilfeersuchen Pippo Mauro (Emiliano de Martino) zu verhaften, der in München einen eiskalten Mord begangen hat. Ausgerechnet dieser skrupellose Mafia-Scherge hat sich im Hause der Kleinfamilie Modica in Dortmund eingenistet, zu der noch Sofia (Emma Preisendanz) gehört, die nichts weiß von den Machenschaften ihres Vaters. Ist es unter diesen Umständen zumutbar, die abtrünnige Ehefrau einer solchen Gefahr auszusetzen?
50 Jahre „Tatort“ – ein ganz besonderes Jubiläum! Kein anderes deutsches Krimiformat kann auf eine so lange Fernsehgeschichte und eine so hohe Schlagzahl an Episoden (1147!) zurückblicken und keines ist so überzeugend mit der filmästhetischen Entwicklung der TV-Fiktion und den Veränderungen des gesellschaftspolitischen Zeithorizonts mitgegangen. Diese Reihe ist das letzte „Lagerfeuer“ der Nation. Dabei haben sich besonders in den vergangenen Jahren zahlreiche Filme aus der Komfortzone des sonntäglichen Krimi-Rituals herausbegeben, um auch einem von Netflix & Co an komplexere Narrationen und sinnlicheres Augenfutter gewöhnten jüngeren Publikum weiterhin Lust auf „Tatort“ zu machen. Für den Jubiläumsfilm „In der Familie“ hat sich Autor Bernd Lange („Das Verschwinden“) eine Geschichte ausgedacht, die diese Anforderungen eindrucksvoll erfüllt. WDR und BR haben sich zu einer Doppelepisode verabredet, in der die Teams aus Dortmund und München, deren Sympathien für einander sich in Grenzen halten, dazu verdammt werden, gemeinsam zu ermitteln. Die Fälle sind verwoben zu einem Film, der ein sehr ungewöhnlicher Krimi ist, zugleich Milieustudie, Drama, und auch auf das sonntags in der ARD immer beliebter werdende Thriller-Genre wird in dem „Zweiteiler“ gesetzt. In Teil 1 wechselt immer wieder die Perspektive – von der Polizeiarbeit, die selten konfliktfrei verläuft, zu einem vermeintlich normalen Familienleben, das bestimmt wird von Lügen und das brandgefährlich ist. Auch Teil 2 zeigt eine Polizei, der die Hände gebunden sind, die den Protagonisten hinterherhechelt und meist nur zweiter Sieger ist. Ermittlungserfolge kann es sowohl in Dortmund als auch in München nur geben, wenn sich jemand findet, der bereit ist, als Kronzeuge auszusagen.
„In der Familie“ ist kein herkömmlicher Zweiteiler. Das beginnt bei der Produktionsweise: Während andere Reihen aus Kostengründen häufig zwei eigenständige Filme parallel und mit weitgehend gleichem Team drehen, haben es Produzent Michael Polle („Babylon Berlin“) und die Redakteure Stephanie Heckner (BR) und Frank Tönsmann (WDR) bei diesem Jubiläums-„Tatort“ genau umgekehrt gemacht: Sie haben den renommierten Filmemacher Dominik Graf und die hochtalentierte Jungregisseurin Pia Strietmann verpflichtet, die mit „Unklare Lage“ 2020 den bisher aufregendsten „Tatort“ inszeniert hat. Beide arbeiten mit völlig unterschiedlichen Crews, allenfalls sechs Schauspieler, Jörg Hartmann, Udo Wachveitl und Miroslav Nemec sowie drei Episoden-Darsteller, sind in beiden Teilen zu sehen, und Graf wie Strietmann setzen – wie man es von ihnen kennt – auf eine eigene Handschrift. Maßgeblich beeinflusst werden ihre filmischen Erzählweisen durch die komplexe Geschichte von Autor Bernd Lange, in der erzählt wird, wie die ‘Ndrangheta auch hierzulande operiert. „Hier prallt eine weltweite, mafiöse Kraken-Struktur auf den oft hilflosen Kleinklein-Apparat unserer deutschen Kommissare“, beschreibt Dominik Graf die Machtverhältnisse, die in beiden Filmen einen realistischen Widerhall finden. Der Alltag ist der Ausgangspunkt für etliche Gewaltexzesse, in die beide Teile – gerade noch Primetime-tauglich – gipfeln.
Grafs Episode ist ein Polizeifilm, so wie der elffache Grimme-Preisträger das Genre versteht: ein spannendes Kammerspiel, das Kommissaren, Tätern und potenziellen Opfern gleiches Interesse entgegenbringt. „Die Geschichte ist geschrieben wie eine Schraube, die sich langsam zudreht“, so Graf. Fulminant ist besonders der fiebrige Showdown, der drei Erzählstränge dynamisch miteinander kurzschließt. Auch wenn der Schmutz der Straße und der menschlichen Behausungen, der unvermeidliche Polizeifunk, der sich zu Beginn einige Male meldet, oder das Wechselspiel von Darsteller-Nähe und filmischen Totalen unverkennbar typische Stil-Elemente von Dominik Graf sind, so hat sich der Fan kinematographischer V-Effekte diesmal auffallend (und angenehm) zurückgehalten – vielleicht aus der Einsicht her-aus, dass ein solch narrativ aufgeladener Mikrokosmos mit sechs Kommissaren und reichlich Krimi- und Konfliktpotential nicht auch noch übermäßiger filmischer Extravaganzen bedarf.
Dagegen wirkt die Inszenierung von Strietmanns 90 Minuten fast schon aufwendiger. Und auch das ist für diese Familientragödie die adäquate Erzählweise. Der zweite Teil setzt ein halbes Jahr später ein und macht die 17-jährige Tochter der Modicas, bisher eher eine Randfigur, zum emotionalen Zentrum der Geschichte. Immer wieder wird besonders das Innenleben dieser jungen Frau auf die Bilder projiziert, sehen wir die angespannte Seelenlage im Szenenbild und durch die Kameraarbeit gespiegelt. Aber auch dramaturgisch – was bereits im Drehbuch angelegt ist – besticht dieses klassische Krimi-Drama. Auf einer kleinen Brücke, irgendwo, einsam in den Bergen, beginnt die Geschichte von der Entwürdigung dreier Menschen mit einer packenden Szene, in der ein nicht korrupter Baudezernent aus Versehen zu Tode gefoltert wird. Am gleichen Ort kommt es gegen Ende zum dramatischen Höhepunkt des Films: Die Hochspannung, die im ersten Teil maßgeblich unter anderem aus der Montage resultiert, wird hier auf die Mise en Scène verlagert. Atemberaubend sind beide Varianten.
„In der Familie“ ist ein zeitgemäßer „Tatort“. Der Film wirft die Genres in die Waagschale, die in den letzten Jahren neben den „Experimenten“ für eine besondere Qualität des ARD-Flaggschiffs standen: Krimi-Drama, spannend veredelt durch Thriller-Momente. Mit dem entscheidenden Unterschied, dass in 90 Minuten das Drama hinter dem Krimi, die Charaktere hinter den Taten immer nur bruchstückhaft sichtbar werden können. In einem normalen guten „Tatort“ werden in der Regel die mörderischen Beziehungen (der Vergangenheit) nach und nach rekonstruiert. In Langes großem Wurf hingegen steckt der Zuschauer mittendrin im Drama von Vater, Mutter, Kind, wird immer wieder Augenzeuge des mafiösen Machtapparats und der Ohnmacht der Gepeinigten. Und der Zuschauer ist besser im Bilde als die Ermittler … Um die Spannung nicht zu nehmen, darf man von der Geschichte in einer solchen Vorabkritik nicht mehr verraten – aber eines darf gesagt sein: „In der Familie“ ist nicht nur dem Anlass würdig, der perfekt konzipierte Zweiteiler ist zugleich auch der „Tatort“ des Jahres.