Rentner Claasen (Dieter Schaad) tötet seine demenzkranke Frau und versucht sich danach mit Tabletten das Leben zu nehmen. Er wird gerettet. Als Inga Lürsen (Sabine Postel) am Tatort eintrifft, sieht es für sie nach „gemeinschaftlich begangenem Suizid“ aus. „Oder ganz einfach Mord“, entgegnet Gerichtsmediziner Dr. Katzmann (Matthias Brenner). Und schon sind die Bremer Ermittler mittendrin in einem gesellschaftlichen Tabuthema. Der beflissene Gutachter Carsten Kühne (Peter Heinrich Brix) zeigt Frau Lürsen und Stefefreund (Oliver Mommsen) den Alltag von Pflegenden. Da ist Frau Jansen, die ihre demenzkranke Mutter pflegt und dringend eine höhere Pflegestufe benötigt, um mehr Geld zu erhalten. Da ist Herr Lessmann, der seine nach einem Hirnschaden völlig hilflose Frau betreut und sieht, dass die ihm zugewiesene Pflegekraft schlecht ausgebildet ist. Und da ist Herr Claasen, der sich die häusliche Pflege nicht mehr leisten konnte und Frau Lürsen gesteht: „Es war der richtige Moment für uns zu gehen.“ Die Ermittler schauen sich auch den ambulanten Pflegeanbieter Domamed genauer an. Als sie den Fall schon abschließen wollen, gibt es noch eine Leiche.
Foto: RB / Christine Schröder
Der neue Bremen-“Tatort“ zeigt einen toten Winkel in der Gesellschaft: Millionen Pflegebedürftige werden von ihren Angehörigen aufopferungsvoll zu Hause gepflegt. Wie es ihnen dabei geht, welche physischen und psychischen Belastungen sie dabei ausgesetzt sind, wie allein gelassen sie sich dabei fühlen – davon erzählt dieses Krimidrama von Katrin Bühlig (Buch) und Philip Koch (Regie) auf sehr berührende Weise. Schon die ersten Minuten zeigen die Intensität dieses Films: Ein alter Mann sitzt in seiner Wohnung, dann geht er ins Schlafzimmer, beugt sich über seine schlafende Frau und erstickt sie mit einem Kissen. Danach schluckt er Tabletten, ruft die Polizei an, bittet sie, dass man sich um die Leichen und den Hund in der Wohnung kümmert: „Ich will nicht, dass sich Nachbarn belästigt fühlen, Tote riechen doch“. Keine Musik untermalt die Szene, die Kamera ist nah dran, der Tötungsprozess wird schonungslos gezeigt. Nicht die einzige Szene, die unter die Haut geht.
Drehbuchautorin Katrin Bühlig: Fakten zur häuslichen Pflege
Rund 2,8 Mio. Menschen, das sind drei Viertel aller Pflegefälle in Deutschland, werden zuhause von ihren Angehörigen versorgt. Eine Infratest-Untersuchung ergab, dass sich 42 Prozent der privat Pflegenden von ihrer Situation „schwer belastet“ fühlen, 41 Prozent sogar „extrem belastet“. Mehr als 80 Prozent also leiden unter permanenter Überforderung. Und das über Jahre hinweg, denn die durchschnittliche Pflegezeit beträgt heute rund zehn Jahre. Angehörige von Demenzkranken haben es noch um vieles schwerer. Sie müssen zusehen, wie ein geliebter Mensch nach und nach seine Persönlichkeit, seine Identität verliert und können letztlich doch nichts dagegen tun. Die Begleiterscheinungen der Krankheit sind grausam. Von den Verhaltensänderungen, die oft aggressiv und starrsinnig sind, mal ganz abgesehen. Was unseren Horst Claasen betrifft, hat er jahrelang aufopferungsvoll seine Frau gepflegt, ist aber letztlich auch an der Pflege zerbrochen. Denn diese Krankheit macht auch einsam: Herr Claasen wusste sich nicht mehr zu helfen, die Hilflosigkeit seiner Frau hat sich auf ihn übertragen.
Foto: RB / Christine Schröder
Der Umgang mit und auch die Überforderung in der häuslichen Pflege ist eines der drängendsten Themen unserer Zeit. Das in der populärsten deutschen Krimireihe zu behandeln, ist ungewöhnlich und mutig zugleich. „Ich gebe zu, dieses Thema schreit nicht unbedingt nach einem Tatort“, sagt Katrin Bühlig, die im Krimifach sehr versiert ist und sich des öfteren mit aufwühlenden Themen beschäftigt hat, man denke nur an den Film „Silvia S.“, die Geschichte eines Amoklaufs. Und weiter: „Und doch war es für mich, für die Produktion und die Redaktion von Radio Bremen sehr wichtig, genau dieses gesellschaftsrelevante Thema in einem Tatort zu erzählen. Denn in einem Tatort habe ich die Chance auf ein Millionenpublikum. Und wenn wir es schaffen, dass die Menschen darüber reden, miteinander reden und die Verantwortlichen in der Politik vielleicht auch zuschauen und entsprechend handeln, dann haben wir unser Ziel erreicht. Denn Filmemachen hat für mich auch etwas mit Verantwortung zu tun.“ Und das zeigt der Film – sowohl erzählerisch als auch bildlich.
„Ich habe ich bei der Umsetzung besonders darauf geachtet, den Fokus immer auf die Darsteller zu setzen, so nah und echt am Menschen wie möglich zu erzählen. Puristisch, ohne stilistische Überhöhungen oder forciertes schnelles Erzähltempo – auch wenn es gerade so en vogue ist. Die handelnden Figuren stehen im Mittelpunkt und es ist einzig Ihnen überlassen, die Geschichte dieser Menschen zu erzählen, die unseren tiefsten Respekt verdienen.“ (Regisseur Philip Koch)
Foto: RB / Christine Schröder
Dieser „Tatort“ verlässt sich nicht auf die üblichen Spannungselemente eines Krimis, er porträtiert nüchtern, fast dokumentarisch Menschen in dieser Lebenssituation. Es wird gezeigt, wie sie an Grenzen stoßen, überfordert und allein gelassen sind, mit dieser extremen Belastung nicht mehr zurecht kommen („Wann stirbst du endlich, Mama?“). Der Film macht deutlich, dass Pflege ein Geschäft mit komplexen Strukturen ist, die Geschäftemacher ausnutzen, um sich zu bedienen, und die dadurch enorme finanzielle Schäden anrichten, aber sich auch moralisch schuldig machen, weil sie mit hilflosen Menschen ihren Profit steigern.
„Im toten Winkel“ ist einerseits ein klassischer Themen-„Tatort“, andererseits wird er alles andere als klassisch erzählt. Der Film macht betroffen, im positiven Sinne. Katrin Bühlig, die für ihre Projekte stets akribisch recherchiert, zeigt gleich mehrere Schicksale. Nicht laut und anklagend: Schlüsse kann jeder Zuschauer selbst ziehen. Das ist manchmal schwer zu ertragen, weil Regisseur Philip Koch („Tatort – Der Tod ist unser ganzes Leben“) nichts ausblendet und nah an die Menschen und die Situationen rangeht. Sehr ruhig und genau, ohne stilistische Überhöhungen inszeniert er das Drama, er führt die Kranken nicht vor und macht die Einsamkeit der privaten „Pfleger“ spürbar: Er zeigt ihre aufopferungsvolle Arbeit, ihre psychischen und physischen Belastungen – findet die richtigen Bilder dazu, mal sanft, fast zärtlich, mal äußerst krass. Wenn Frau Jansen ihre Mutter ans Bett fesselt, dann regt das auf, doch Fixierung ist ein brisantes Thema in der Pflege. Aber kurz darauf nimmt sie sie auch wieder in den Arm, ist erschöpft und ausgezehrt, aber auch liebevoll. Der „Tatort – im toten Winkel“ ist ein Film zwischen Wut und Hilflosigkeit. Kein Krimi, ein intensives Drama über Altwerden in Deutschland, das einem angesichts unserer durchgetakteten und ökonomisch geprägten Welt Angst macht. Der Film erzählt dies sehr emotional. Am Ende stehen auf dem Dach des Kommissariats Mutter und Tochter Lürsen. Die nimmt ihrer Mutter die Angst und sagt: „Wir kommen von unseren Eltern und kehren zu ihnen zurück. Deshalb werde ich mich um dich und Papa kümmern. Wie das genau aussieht, das ist Verhandlungssache.“