Berlin, kurz vor halb 5, Randale in der ersten U-Bahn. Zwei angetrunkene Jugendliche ziehen einen behinderten, alten Mann ab. Als sie ihm seine Gehhilfe nicht zurückgeben wollen, geht ein Fahrgast beherzt dazwischen. „Ich hab’ ein Auge auf euch“, warnt er und macht ein Handyfoto von den jungen Männern. Bei der nächsten U-Bahnstation steigt der Mann aus; die beiden Jugendlichen folgen ihm. Minuten später liegt der couragierte Mann blutüberströmt und regungslos auf dem U-Bahnsteig Schönleinstraße. Der Mann kann reanimiert, aber sein Leben nicht gerettet werden. Die mutmaßlichen Täter sind flüchtig. Die Medien sind besser informiert als die Polizei, Öffentlichkeit und Politik sind alarmiert. Die Kommissare Ritter und Stark bekommen ein großes Team zur Seite gestellt. Die Aufzeichnungen der Überwachungskameras zeigen zwar die Täter, die Tat selbst bleibt jedoch schemenhaft.
„Der Zuschauer kriegt die Geschichte aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt. Damit steckt er mitten im Fall und irgendwie auch mitten in den Köpfen der Ermittler.“ (Dominic Raacke)
Stephan Wagner über Gewalt im öffentlichen Raum:
„Wer sich im Leben einer städtischen Gesellschaft bewegt, kommt mit ihr zwangsläufig in Berührung. Sie steht für die Urangst in uns, aus dem Nichts heraus in eine irrationale und unkontrollierbare Situation zu geraten, die wir nur als Opfer von Gewalt verlassen können. Nicht selten sind es Kleinigkeiten, die als Auslöser für mitunter tödliche Tragödien herhalten. Im Fall Johnny K. ging es um einen Stuhl, beim Münchner Fall Dominik Brunner um das Abwenden eines Diebstahls in der U-Bahn. Wir kennen Fälle, die ihren Beginn fanden in einer verweigerten Zigarette, einem falschen Wort oder einem schiefen Blick.“
„Tatort“ ist in dem Film von Stephan Wagner mehr als ein Krimi-Label. In „Gegen den Kopf“ werden der Tathergang und dessen Vorgeschichte zunächst akribisch recherchiert und schließlich lückenlos rekonstruiert. Fokussiert ist dieses Mördersuch-Puzzle, das sich aus der Analyse von Überwachungsvideos, Handytelefonaten und zahlreichen Zeugenaussagen zusammensetzt, auf das Geschehen am Tatort. Wer hat die tödlichen Tritte abgegeben und warum? War es der ausgeflippte Sohn aus gutem Haus oder der vorbestrafte junge Mann? Keiner von beiden wirkt in den Vernehmungen wie ein Gewaltverbrecher. Wer es von den beiden war, ist für die Spannung des Films zweitrangig, wie die Kommissare und ihr nerdiger Sondertrupp den Täter überführen – das ist faszinierend und es ist vor allem mitreißend. Tempo ist das Gebot der Ermittlungen, denn Erinnerungen von Zeugen verblassen rasch. Tempo ist auch der Antrieb der Inszenierung. Die Fakten werden fix ins Spiel geworfen – ein Augen-Blick, ein Gedanken-Blitz, ein Schnitt. Die pfeilschnelle Verknüpfung der Fakten ersetzt in diesem besonderen Krimi die Intuition und häufig auch die Reflexion der Kommissare.
Stephan Wagner macht ernst mit dem oft beschworenen, selten eingelösten Diktum vom Krimi als Spiegel der gesellschaftlichen Zustände. Dieses Tötungsdelikt in „Gegen den Kopf“ ist eingebettet in ein interaktives Bündel aus sozialen, politischen und psychologischen Motiven. Da ist die unermessliche Gewaltbereitschaft (Ritter: „zu meiner Zeit hat man aufgehört, wenn ein Mensch am Boden lag“), die der Film zeigt und – soweit es möglich ist – psychologisch und situativ erklärt. Da ist das Phänomen der unterlassenen Hilfeleistung, eine Art soziale Konfliktvermeidung, die komplexer ist als Begriffe wie „Angst“ und „Feigheit“ nahelegen. Auch in diesem Punkt hütet sich Wagner vor vorschneller Verurteilung der Personen, die während der tödlichen Tritte zögern, einzuschreiten. Auch die Medien kommen zu Wort: Sie sind oft schneller als die Polizei und erschweren nicht selten deren Ermittlungen, aber sie sind in diesem „Tatort“ nicht die Hyänen der Gesellschaft. Der ermittelte Fall selbst bleibt nicht auf der exekutiven, sondern streift auch die judikative Ebene. Die mutmaßlichen Täter werden dem Haftrichter vorgeführt – einer darf raus aus der U-Haft, einer nicht.
„Gegen den Kopf“ ist ein konzentrierter Ausnahme-„Tatort“ aus Berlin, der besticht durch die vielschichtige Bearbeitung eines gesellschaftspolitischen Themas, durch seinen rauen, multiperspektivischen Realismus (der sich auch in der fast dokumentarischen Qualität des Bildes spiegelt), durch seine filmästhetische Rasanz und den Verzicht auf wohlfeile Antworten. Der Film zeigt ein Stück urbane Realität. Ein Mann stirbt wegen einer Lappalie. Wagner: „Es ist die Banalität des Auslösers, die uns hier vor dem Vorgang des Tötens ohnmächtig werden lässt. Und doch ist sie Teil unseres Alltags.“ (Text-Stand: 15.8.2013)