Inga Lürsen hat es erwischt. Emotional. Der neue Kollege Leo Uljanoff scheint der Kommissarin gut zu tun – auch als Lebenspartner. Sie wollen zusammenziehen, doch dann wird ihm brutal von hinten ein Messer ins Herz gestoßen. Er verblutet auf der Herrentoilette des Polizeipräsidiums. „Er wird töten. Er wird mein Kind wieder töten“, schreit derweil eine Frau in Lürsens Büro herum. Sie heißt Marie Schemer, ist Ärztin und vollgepumpt mit Drogen. Sie war verheiratet mit einem Mann, der die gemeinsame Tochter getötet hat. Jetzt ist sie wieder schwanger und in Todesangst, denn ihr Ex Joseph Wegener ist seit Tagen auf freiem Fuß, es wurde in ihr Haus eingebrochen und an der Wohnzimmerwand steht in roten Lettern: „Ich töte dich!“ Jetzt passt plötzlich alles zusammen, auch die Ermordung des Kollegen: der nämlich leitete vor Jahren die Ermittlungen gegen Wegener. Und dann steht plötzlich Stedefreund wieder im Büro. Heimgekehrt von seinem Einsatz in Afghanistan.
Foto: RB / Jörg Landsberg
Das Intro, in dem Inga Lürsen und ihr neuer junger Freund eine Verhörsituation inszenieren, um sich spielerisch gegenseitig ihre Liebe zu bekennen, ist der einzig helle Moment im Bremen-„Tatort – Er wird töten“. Danach wird es brutal, düster und es geht geradewegs in die Abgründe der menschlichen Seele. Die Kommissarin will diesen Fall unbedingt übernehmen – denn so kann sie im Handeln ihre Trauer bewältigen. Sabine Postel spielt durchgängig mit ernster Miene eine Lürsen, die sich selbst diszipliniert, nur gelegentlich eine Träne im Augenwinkel. Über die Arbeit gelingt auch die Wiederannäherung an Stedefreund. „Hilfst du mir? Ich könnte deine Hilfe gut gebrauchen“, fragt sie. Natürlich hilft er, doch noch steht etwas zwischen den beiden. Der Afghanistan-Heimkehrer könnte selbst Hilfe gut gebrauchen. Er scheint schwer traumatisiert zu sein, erfüllt von einer stummen Wut, wirkt er aggressiv, reagiert gelegentlich seltsam brutal – er ist nicht mehr der freundliche Kollege. Oliver Mommsen spielt ihn mit der typischen Robert-de-Niro-Aura aus „Taxi Driver“.
Florian Baxmeyer über „Er wird töten“:
„Neben dem Krimi ist dieser ‚Tatort’ eine Tragödie, eine Geschichte über Schuld und Sühne, in der es keine wirklichen Täter, sondern nur Opfer gibt. Alle, auch die Polizisten, haben großes Leid erfahren, alle haben einen nahestehenden Menschen verloren… Mein Kameramann Marcus Kanter und ich haben uns für einen warmen mitfühlenden Blick auf diese Menschen und ihr Leid entschieden.“
Foto: RB / Jörg Landsberg
Es ist ein ungewöhnlicher „Tatort“. Ein Kammerspiel, das aus der Düsternis der Situationen und dem Dunkel des Verhörraums kommt. Immer wieder sind zwei Augenpaare aufeinander gerichtet. Und dem Zuschauer bleibt nichts anderes übrig, als genau in diese verstörten, verängstigten, Trauer tragenden Gesichter zu schauen, um sich ein Bild davon zu machen, wie die Protagonisten mit ihren Verlust-Erfahrungen umgehen. Christian Jeltsch hat auch diese Fortsetzung zum „Tatort – Puppenspieler“ geschrieben. Beide Filme wurden am Stück gedreht. Man sieht es nicht. „Er wird töten“ ist gleichermaßen konzentriert und dicht erzählt, besitzt aber eine andere Tonlage. Florian Baxmeyer sah die wichtigste Aufgabe für sich darin, „die wenigen Charaktere alle im Spiel und verdächtig zu halten“. Whodunit- und Figuren-Spannung halten sich die Waage. Insbesondere, was die „Mentalität“ Stedefreunds angeht, könnte mit diesem Film „für den Knaben eine neue Tür aufgegangen sein“, so Mommsen.
Oliver Mommsen über die Entwicklung von Stedefreund:
„Klar, dass er nicht jede Nacht einsam durch die Gegend fahren kann, um auf eigene Faust für Ordnung zu sorgen. Aber dass er etwas sperriger und weniger durchschaubar ist und auch mal sein eigenes Ding durchzieht, gefällt mir gut.“
Um die Spannung aufrechtzuerhalten, arbeiten Drehbuch und Regie mit zahlreichen (Kintopp-)„Knallern“. Dieser Film wirkt wie ein Text, der nur aus Hauptsätzen besteht. Kompakt und sehr wirkungsvoll von Augenblick zu Augenblick. Dass da in der Rückschau, was die äußere Handlung und einige Verhaltensmotive angeht (konkreter sollte man aus Spannungserhaltungsgründen nicht werden), nicht alles 100%ig logisch ist, wird wettgemacht durch eine stimmige Charakterpsychologie und durch einen suggestiven Erzählfluss, der den Zuschauer wenig Fragen stellen lässt. Kein „Tatort“ für die Ewigkeit, aber einer, der durch seine Tragik, Tiefe und Grundsätzlichkeit wegweisend für die „Beziehung“ des in die Jahre gekommenen Ermittlerduos werden könnte. (Text-Stand: 13.5.2013)