Ein Gerichtssaal wird zur Hinrichtungsstätte. Der Anwalt Thomas Peters (Thorsten Merten) hat den Richter der Verhandlung, nachdem dieser vor ihm auf die Knie gehen musste, mit einem gezielten Schuss in den Kopf niedergestreckt. Peters nutzt den Schockzustand aller Beteiligten zur Flucht. Die Zeugen berichten, dass er mit der Waffe auf den Richter zielte, aber erst abgedrückt hat, als es punkt 14 Uhr war. Eine knappe Stunde später betritt der Anwalt ein Gebäude der Bayreuther Universität. Hier bedroht er eine Laborantin mit der Waffe. Und wieder lässt er sich Zeit. Bei einem Fluchtversuch schießt er die Frau an, schleift sie anschließend durch den Gang offenbar an eine bestimmte Stelle, um ihr exakt um 15 Uhr in den Kopf zu schießen. Die Kommissare Felix Voss (Fabian Hinrichs) und Paula Ringelhahn (Dagmar Manzel) stehen vor einem rätselhaften Fall. Kein erkennbares Motiv. Zunächst auch keine Verbindung zwischen dem Täter und den beiden Opfern. Und dazu ein Mann, der kaltblütig tötet, aber Angstschweiß auf der Stirn hat und wegguckt, wenn er abdrückt. Beide Morde aber haben ein ähnliches Tatmuster. Sollte Peters das beibehalten, dann würde er um 16 Uhr wieder zuschlagen. Und tatsächlich recherchiert Kollegin Wanda Goldwasser (Eli Wasserscheid) ein potenzielles drittes Opfer: der in die Schlagzeilen geratene Fabrikant Rolf Koch (Jürgen Tarrach). Der befindet sich zum möglichen Tatzeitpunkt ausgerechnet im Bayreuther Festspielhaus. Evakuieren kommt für den Polizeipräsidenten (Thomas Kügel) nicht infrage. Ohnehin sitzt der fahrige Peters noch in einem Taxi fest… Doch dann betritt er wenige Minuten vor 16 Uhr das Festspielhaus, wo er zielstrebig auf Kochs Loge zusteuert.
„Mir war es wichtig, dass die komplexe Erzählform mit den verschiedenen Zeit-Ebenen nicht nur als Mittel zur Erzeugung von Spannung – als oberflächlicher Effekt – genutzt wird. Sie sollte vor allem dazu beitragen, nach und nach, Schicht für Schicht, die Motive und die Tragik der Figuren zu entblättern und diesen immer näher zu kommen, egal ob Held, Opfer oder Täter.“ (Erol Yesilkaya, Autor)
Die Geschichte deutet es an. Der „Tatort – Ein Tag wie jeder andere“ ist ein Krimi im Thriller-Gewand, hinter dem sich ein Drama versteckt, das sich schließlich zur großen Tragödie aufschwingt. Wie gewohnt bewegen sich Erol Yesilkaya (Buch) und Sebastian Marka (Regie) auch bei ihrem sechsten gemeinsamen „Tatort“ weder auf ausgetretenen Whodunit-Pfaden, noch bedienen sie sich dramaturgischer Standardmustern. Ein Last-Minute-Rescue noch vor der Halbzeit und ein nicht weniger nervenaufreibendes, monströses Duell als Showdown, der die Kommissare am Ende erst einmal wieder vor ein Rätsel stellt, so etwas sieht man nicht alle Tage. Auch optisch konnte Marka in diesen, von ihm selbst sehr präzise geschnittenen Sequenzen aus dem Vollen schöpfen. Der Höhepunkt des Wettlaufs gegen die Zeit wurde tatsächlich im Bayreuther Festspielhaus gedreht. An diesem Ort erfährt der Krimi-Plot eine grundsätzliche Wende, mit der die zweite, nicht weniger spannende Hälfte des Films eingeläutet wird. Der Zweikampf mit ungleichen Mitteln kurz vor dem Ende besitzt ebenfalls eine besondere Location mit einem mehr als ungemütlichen Kerker-Ambiente, das einen Hauch von „Das Schweigen der Lämmer“ verströmt. Und auch die Musik ist großes Kino. Bayreuth verpflichtet. Konzertante Klänge, mal mit breitem Orchester, mal mit dramatischen Streichern, mal mit schwerem Chorgesang spiegeln im Score die Tragik der Geschichte.
„Die Drehgenehmigung für das fast 150 Jahre alte Festspielhaus erhalten zu haben, ist etwas ganz Besonderes für uns. Unser ‚Tatort‘ ist erst der dritte Spielfilm, dem diese Ehre zu Teil wurde. Nach Vanessa Redgrave und Richard Burton konnten wir nun also mit Dagmar Manzel und Fabian Hinrichs auf dem Grünen Hügel tätig werden.“ (Jakob Claussen, Produzent)
Das Tragödienhafte färbt auch auf Dagmar Manzels Kommissarin ab. „Bevor du fragst; mir geht es gut. Ein Tag wie jeder andere.“, sagt sie zu Ihrem Kollegen. Das ist natürlich nur behauptet. Ringelhahn hat einen Menschen erschossen – und das geht nicht spurlos an ihr vorbei. Und so engagiert sie sich im Verlauf der Ermittlungen auf eine Art und Weise, die dem Vernunftsmenschen Voss nicht nur zu emotional ist, sondern die ihm auch als Polizeibeamter, der einen Eid geschworen hat, gegen den Strich geht. Das Ermittlerduo, welches sich von Beginn an („Der Himmel ist ein Platz auf Erden“, 2015) mochte und ermittlungstechnisch immer auf einer Wellenlänge lag, gerät zum ersten Mal heftig aneinander. „Auch richtige Arschlöcher haben Rechte“, belehrt Voss, ein Mann mit Hang zum Klugscheißer, die angeschlagene Ringelhahn. „Wir dürfen uns nicht erpressen lassen“; Staatsräson steht bei ihm an erster Stelle. Die Kollegin indes sucht eine pragmatische Lösung, und bitte nicht noch mehr Tote. Auch sie ist ein Mensch, der alles sehr ernst und genau nimmt. Aber sie fühlt und denkt bei diesem Fall einfach anders. „Ich werde das machen, was nötig ist“, sagt sie – und macht sich auf den Weg. Gegen Ende nähern sich die Standpunkte der beiden wieder an. Jetzt hat auch Voss keine Bedenken mehr wegen einer kleinen Nötigung im Amt. In der Schlussszene in der Kantine gibt es dann ein zögerliches, sehr verstecktes Lächeln von Ringelhahn. Aber wenigstens schauen sie sich wieder in die Augen. Offen und klar, klug und sensibel, mit einem Ausdruck, der zur Stimmung der Geschichte passt. Diese eine Minute bildet mit einer Kantinen-Szene zu Beginn des Films eine Klammer. In dieser ereiferte sich Voss noch über das No-Go-Produkt H-Milch, das später auch in der Geschichte eine nicht unwichtige Rolle spielt. Jetzt reden sie lieber über das Wetter als über die sicherlich bevorstehende Anhörung.
Als Kritiker bewegt man sich bei diesem „Tatort“ auf dünnem Eis. Jeder Satz zur Handlung kann ein Satz zu viel sein. Gleiches gilt für Informationen zum Thema des Films, Lebensmittelskandale, das Autor Yesilkaya in einen packenden Genre-Krimi verpackt hat. Die Machart lässt sich leichter kommunizieren. Die Geschichte ist komplex, der Film aber nicht kompliziert. Die Krimihandlung, die Verbrechen und die Ermittlungen, wird von Situationen aus der Vergangenheit unterbrochen; sie ergeben eine eigene, private Geschichte, in der sich bereits des Krimis Lösung versteckt. Noch vor dem Festspielhaus-Wendepunkt werden die heutigen & die vergangenen Szenen gegeneinander montiert, wodurch man sich als Zuschauer ihren Zusammenhang bald selbst erschließen kann. Wenig später macht es auch bei den Kommissaren klick – und damit hat auch der letzte Zuschauer verstanden. „Ein Tag wie jeder andere“ ist sicher kein in erster Linie sozialkritischer Krimi – und doch entwirft er bei aller Spannung auch ein Bild einer Gesellschaft, die ungerecht sein kann, weil es beispielsweise im deutschen Gesetzesdschungel aberwitzige Schlupflöcher gibt, durch die vornehmlich kriminelle Industrielle der Justiz entkommen. Und so kann es dann passieren, dass in dieser amoralischen Welt selbst ein guter Mensch zum Monster wird. (Text-Stand: 25.1.2019)