Tatort – Ein paar Worte nach Mitternacht

Meret Becker, Mark Waschke, Darnstädt, Lena Knauss. Allenfalls gut gemeint

Foto: RBB / Stefan Erhard
Foto Thomas Gehringer

Familiendrama und Geschichtslektion zum 30. Einheits-Jahrestag: Der Berliner „Tatort – Ein paar Worte nach Mitternacht“ (RBB, Degeto / Real Film Berlin), in dem ein Bauunternehmer an seinem 90. Geburtstag erschossen aufgefunden wird, handelt von großer Schuld und der Frage, ob es ein Vergeben und Vergessen geben kann. Das Drehbuch greift mit guten Absichten wichtige Fragen auf, packt aber in einem historischen Rundumschlag zu viel hinein: Nazi-Verbrechen, DDR-Erbe, Wiedervereinigung, Antisemitismus, Kapitalismus-Kritik, Antifa, die Neue Rechte. So bleiben manche Figuren schablonenhaft und die Spannung mäßig. Die Ermittler stellen sich zudem arg begriffsstutzig an. Trotz starker Besetzung – und eines Wiedersehens mit Meret Beckers 1935 geborenem Vater Rolf – ist diese Episode ein eher bemühter Versuch, die großen deutschen Themen „Tatort“-gemäß zu verarbeiten.

Klaus Keller (Rolf Becker) wird am Morgen seines 90. Geburtstags erschossen aufgefunden. Um seinen Hals hängt ein Schild mit der Aufschrift „Ich war zu feige, für Deutschland zu kämpfen.“ Die Versöhnung mit den Opfern der Nazi-Diktatur war das Lebensthema des Unternehmers, dessen mittlerweile von seinem Sohn Michael (Stefan Kurt) geleitete Firma gerade den Auftrag für den Bau eines Shoa-Dokumentationszentrums in Israel erhalten hat. Wurde Klaus Keller also von Rechtsextremen ermordet, zumal der Text auf dem Schild an Strafaktionen der SS im Krieg erinnert? Kommissarin Nina Rubin (Meret Becker) will den Fall lieber an den Staatsschutz abgeben, doch der weigert sich. Ihre Befürchtung, „durch die braune Scheiße waten zu müssen“, bewahrheitet sich nur teilweise, denn die „Tatort“-Folge „Ein paar Worte nach Mitternacht“ handelt nur am Rande vom Thema Rechtsterrorismus.

Tatort – Ein paar Worte nach MitternachtFoto: RBB / Stefan Erhard
Befragung der Hinterbliebenen. Meret Becker, Mark Waschke, Stefan Kurt & Marie-Lou Sellem in „Tatort – Ein paar Worte nach Mitternacht“

Kurz nach dem 30. Jahrestag der „Wiedervereinigung“ hat Drehbuch-Autor Christoph Darnstädt ein Familiendrama erdacht, das zahlreiche Aspekte und Themen anzusprechen versucht. Die Familie Keller ist gewissermaßen wie ein historischer Parcours konstruiert: Der tote Großvater, der nach dem Krieg in West-Berlin zum erfolgreichen Bau-Unternehmer wurde, trägt schwer an seiner Verstrickung in die Verbrechen der Nazizeit. Mit seinem Bruder Gert (Friedhelm Ptok), der bei der Stasi Karriere machte, hatte er bis zu seinem Tod kaum noch Kontakt. In Verdacht gerät erst einmal Gerts Sohn Fredo (Jörg Schüttauf), ein Politiker der Neuen Rechten. Als Rubin und Kollege Robert Karow (Mark Waschke) den Neffen des Opfers im Krankenhaus auftreiben, wo Fredo seinen Vater besucht, bekommt der Fall eine neue Wendung: Während sein Sohn Fredo befragt wird, spaziert Gert Keller aufs Klinikdach und stürzt sich in den Tod. Sein letztes Wort war: „Wiedervereinigung“. Zuvor hatte Fredos Frau Susanne (Lina Wendel) den Kommissaren einen Vortrag über die Ungerechtigkeiten bei der Abwicklung der DDR-Wirtschaft gehalten. Es wird die einzige Szene mit Wendel bleiben.

Tatort – Ein paar Worte nach MitternachtFoto: RBB / Stefan Erhard
Auch Ruth (Victoria Schulz), die Freundin von Moritz Keller (Leonard Scheicher), kannte dessen toten Großvater gut. Spiel und Inszenierung sind besser als das überladene Drehbuch.

Klaus Kellers Enkel Moritz (Leonard Scheicher) wiederum hat sich nach abgebrochenem BWL-Studium auf die Antifa-Seite geschlagen, arbeitet als Praktikant bei der Holocaust-Gedenkstätte und verdächtigt seinen eigenen Vater Michael. Das mögliche Motiv: Weil Klaus Keller an seinem 90. Geburtstag reinen Tisch machen und endlich seine Verstrickung in die Nazi-Verbrechen öffentlich machen wollte, habe Firmenchef Michael Keller befürchtet, den wichtigen Israel-Auftrag zu verlieren. Seine Mutter Maja (Marie-Lou Sellem) nennt Moritz freilich einen „verwöhnten Rotzlöffel“. War’s also der rechte Neffe aus dem Osten? Oder der Kapitalisten-Sohn aus dem Westen? Die Ermittler stolpern in diesem Film etwas orientierungslos durch die Handlung, ihre Begriffsstutzigkeit wirkt aber unglaubwürdig. So braucht es eine Weile, bis sie erkennen, dass es sich bei dem Bekenntnis, HJ-Scharführer gewesen zu sein, kaum um die große Lebensbeichte von Klaus Keller gehandelt haben dürfte. Eine zentrale Rolle spielt das Video von dessen Rede am Abend vor seinem 90. Geburtstag, in der er die angekündigte Selbstbezichtigung dann doch nicht vornahm. Es muss bis zum Finale dauern, bis der sonst blitzgescheite Karow auf den Trichter kommt.

Sehenswert an diesem Berliner „Tatort“-Team ist anderes: Meret Becker lässt die Sorgen und Beklemmungen der jüdischen Kommissarin Nina Rubin bei diesem Fall ohne Pathos und große Gesten anklingen, etwa als ihr Klaus Kellers Witwe Else (Katharina Matz) im Altersheim freimütig erzählt, wie sie in der Nazizeit eine jüdische Familie denunziert habe. Und Mark Waschke darf noch einmal andere Seiten des häufig schroffen, ungeduldigen Karow spielen und hat einige schöne Flirtszenen mit Ruth (Victoria Schulz), die mehr ist als die vermeintlich unbeteiligte Kellnerin beim Geburtstagsfest von Klaus Keller. Karow nimmt sie mit zum Abendessen bei seinen Eltern (Dietrich Hollunderbäumer, Rita Feldmeier), die im zwölften Film des Berliner Teams zum ersten Mal auftreten (sofern wir da nichts übersehen haben) und sich frank & frei über ihren Sohn auslassen. So erfährt man über den Einzelgänger Karow noch das eine oder andere überraschende Detail. (Text-Stand: 16.10.2020)

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Reihe

ARD Degeto, rbb

Mit Meret Becker, Mark Waschke, Carolyn Genzkow, Rolf Becker, Leonard Scheicher, Stefan Kurt, Marie-Lou Sellem, Victoria Schulz, Jörg Schüttauf, Katharina Matz, Friedhelm Ptok, Dietrich Hollunderbäumer, Rita Feldmeier, Lina Wendel

Kamera: Eva Katharina Bühler

Szenenbild: Jörg Baumgarten

Schnitt: Katharina Fiedler

Musik: Moritz Schmittat

Redaktion: Josephine Schröder-Zebralla (RBB), Birgit Titze (Degeto)

Produktionsfirma: Real Film

Produktion: Sibylle Stellbrink

Drehbuch: Christoph Darnstädt

Regie: Lena Knauss

Quote: 8,27 Mio. Zuschauer (24,5% MA)

EA: 04.10.2020 20:15 Uhr | ARD

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