Die drei Jahre im Knast mit Mitte 20 haben Louis Bürger (Max Riemelt) gereicht. Und so sieht er rot, als eines Morgens die Polizei vor seiner Tür steht. Ein Nachbar ist ermordet worden. Gorniak (Karin Hanczewski) und Winkler (Cornelia Gröschel) haben zwar schon einige Indizien gesammelt gegen diesen anscheinend unverbesserlichen Kleinkriminellen, aber ein Fluchtversuch macht ihn jetzt doppelt verdächtig. In der U-Haft heckt er bald einen Plan aus: Er verletzt sich selbst und wird auf die Krankenstation verlegt, aus der ihn seine Frau Anna (Katia Fellin) – mit einer Schusswaffenattrappe – befreien soll. Die Aktion gelingt. Die beiden wollen im Ausland ein neues Leben beginnen; davor müssen sie aber noch ihren Sohn Tim (Claude Heinrich) holen, der sich vorübergehend in der Obhut des Jugendamtes befindet. Im Kinderheim läuft die Situation allerdings aus dem Ruder, als die Kommissarinnen dort auftauchen. Die Bürgers stecken plötzlich in einer Geiselnahme, sie haben die Heimleiterin (Anita Vulesica) und einen 17-jährigen Bewohner (Emil Belton) in ihrer Gewalt; für das weitere Vorgehen haben sie allerdings keinen Plan. Den hat dafür Dienstellenleiter Schnabel (Martin Brambach): Nicht nur Anna Bürgers Bruder (Karsten Antonio Mielke) und seine Frau (Bea Brocks) hat er ins Kinderheim einbestellt, auch das SEK ist auf dem Weg.
Foto: MDR / Michael Kotschi
In den meisten Krimi-Reihen bekommen es ihre Ermittler im Laufe der Jahre irgendwann mit einer Geiselnahme zu tun. Bei diesem Sujet weiß man, was man bekommt: in erster Linie Spannung. Dennoch hat sich das Erzählmuster einer solchen unmittelbaren, physischen Bedrohungssituation über die Jahre abgenutzt. Und so wird es für die Wirkung und die Qualität einer Geiselnahme im Film immer wichtiger, welchen narrativen Mehrwert diese Geschichten haben und für welchen Mix aus Krimi, Thriller, Actionfilm und Drama sich die Macher entscheiden. Im „Tatort – Die Zeit ist gekommen“ verzichten das Autorenduo Stefanie Veith („Tatort – Nachtsicht“) & Michael Comtesse („Tatort – Das perfekte Verbrechen“) sowie Regisseur Stephan Lacant („Zielfahnder – Blutiger Tango“) auf keine dieser Genre-Farben, zeigen aber ein besonderes Interesse an der Psychologie der Ausnahmesituation und der Krise der Täter, die – das kann guten Gewissens verraten werden – gleichzeitig auch Opfer sind. Es ist die tragische Verkettung unglücklicher Ereignisse, die Louis Bürger und seine Frau immer tiefer in den Schlamassel hineinziehen – bis es für sie nur noch eine Option gibt: Warten. Ihre Haltung aber machen sie deutlich: „Wir kommen erst raus, wenn Ihr wisst, wer’s war.“
Die dramaturgische Doppelfunktion des Geiselnehmer-Pärchens als Täter und Opfer macht den Film auch für den Zuschauer nicht zu einem billigen Mitfieber-Spektakel, sondern zu einem angenehm ambivalenten, mehrschichtigen Vergnügen. Dabei teilt der Krimi-Kenner weniger die Befürchtung der Kommissarinnen, dass die mit der Situation überforderten Geiselnehmer eine tickende Zeitbombe sind, sondern hat vielmehr Sorge, dass das SEK allzu radikal dem amateurhaften Treiben der Bürgers ein blutiges Ende setzen könnte. Die Sympathien liegen also gleichermaßen bei Gorniak/Winkler wie bei den Geiselnehmern; für die Geiseln bleibt indes wenig Mitgefühl. Sie sind Verhandlungsmasse zwischen Polizei und den Bürgers, und sie werden ihre Funktion im Rahmen der Geschichte bekommen – es ist allerdings allein eine dramaturgische. Dafür geraten die Spannungen in der Kleinfamilie immer wieder in den Fokus. So hat sich Tim in der Speisekammer eingeschlossen, was die Eltern veranlasst, um seine Gunst zu werben, während sie in der Küche hockend gleichzeitig ein Auge auf die Geiseln haben müssen, von denen eine den Helden spielen möchte.
Foto: MDR / Michael Kotschi
Der Identifikationspolitik dieses „Tatorts“ entspricht auch der ständige Perspektivwechsel während der Geiselnahme. Gefühlt ist die Geschichte ohnehin näher an den Geiselnehmern im Haus als bei der Polizei, deren Handlungsspielraum bei einem solchen Einsatz begrenzt ist (außerdem hat man das schon oft genug gesehen). Spezieller sind da schon die Familien-Kämpfe drinnen; und richtig spannend wird es, als sich Winkler heimlich ins Haus schleicht, um zwei Mädchen, die sich auf dem Dachboden des Heims befinden, herauszuholen. Dass eine Geiselnahme im Rahmen dieser Geschichte, die beispielsweise kein Interesse an den Geiseln hat, nicht abendfüllend ist, das wissen natürlich auch die Autoren. Und so haben sie diesem knapp 50-minütigen Mittelteil 20 Filmminuten mit einer filmisch beeindruckenden, nahezu magischen Eingangssequenz vorangestellt und einen fast ebenso langen finalen Teil folgen lassen, in denen noch stärker Bürgers Perspektive eingenommen wird. Diese Vielfalt an dramatischen Situationen (auch Gorniak/Hanczewski bekommt ihren Auftritt) abseits der üblichen Ermittler-Routine gehören zu den großen Pluspunkten dieses Krimis. Die Auswertungen von Spuren, PC-Dateien und Handy-Daten laufen im Übrigen im Hintergrund weiter. Im Film werden dann aber – das ist eine interessante Variante – nur die aktuellen Ergebnisse präsentiert, die die Geiselnahme immer wieder in einem anderen Licht zeigen.
Stephan Lacant hat die dramaturgisch komplexe Geschichte kongenial inszeniert. Dass dabei immer wieder Katia Fellin, eine Entdeckung fürs Fernsehen, und vor allem Max Riemelt, mit dem Lacant bereits seinen Erstling „Freier Fall“ drehte, markant und verzweifelt ins Blickfeld der Kamera geraten, versteht sich von selbst. Mal erzählt auch das Szenenbild mit: So ist die Enge des Verhörraums ein Sinnbild für Bürger Lage, der hier ohnmächtig in die Enge getrieben wird. Aber auch das Gegenteil ist zu sehen: erzählende Totalen, der Mensch in der Weite der Landschaft. Das kann Freiheit bedeuten. Doch dieser unglückliche Bürger wirkt eher verloren auf der endlosen Straße in ein besseres Leben. (Text-Stand: 3.3.2020)