Tatort – Die Wahrheit

Wachtveitl, Nemec, Yesilkaya, Marka. Ein Krimi, der dorthin geht, wo es weh tut...

Foto: BR / Hagen Keller
Foto Rainer Tittelbach

Auf offener Straße, mitten in München wird ein Mann von einem Unbekannten brutal niedergestochen. Ein Mord ohne Motiv. Eine Tat ohne Täter-Opfer-Beziehung. Der „Tatort – Die Wahrheit“ zeigt eine ungewöhnliche Seite des Ermittelns: die dauerhafte Frust-Erfahrung. Ob Ermittler, ob Hinterbliebene: alle leiden an diesem perfiden Fall. Ausgerechnet eine Geste der Nächstenliebe wird mit dem Tod bestraft… Auch dramaturgisch und filmästhetisch ist dieses Krimi-Drama mit seinem Höchstmaß an Klarheit & Konzentration nahezu perfekt. Kamera und Szenenbild sind eine Offenbarung, die Dialoge sind jeglicher Banalität befreit. Ein Stück weit übernehmen philosophische Sentenzen die Kommunikation: eine schöne Idee für einen Film, der sich der problematischen Wahrheitssuche verpflichtet hat. Fall 73 ist der schwerste Fall für Batic/Leitmayr. „Tatort“ München bleibt gut für Überraschungen!

Dieser Mord ohne Motiv wird der schwerste Fall für Leitmayr & Batic
Auf offener Straße, mitten in München wird ein Mann von einem Unbekannten brutal niedergestochen. Der Täter lag auf dem Fußgängerweg; als ein Passant (Markus Brandl) dem Liegenden aufhelfen will, sticht dieser mehrfach zu. Mehrere Personen sind Augenzeugen der Tat, auch die japanische Ehefrau Ayumi (Luka Omoto) und Taro (Leo Schöne), der sechsjährige Sohn von jenem hilfsbereiten Ben Schröder, der wenig später im Krankenhaus seinen Verletzungen erliegt. Batic (Miroslav Nemec) – ohnehin seit Wochen neben den Spur – ist außer sich, würde den erstbesten Verdächtigen am liebsten gleich zum Täter machen. Leitmayr (Udo Wachtveitl) behält dagegen einen klaren Kopf und bekommt deshalb von seinem Vorgesetzten Maurer (Jürgen Tonkel) allein die Leitung der Soko übertragen. Dieser scheinbare Mord ohne Motiv wird sein schwerster Fall. Zeugen gibt es zwar einige, aber deren Aussagen widersprechen sich eklatant. Durch einen Hinweis der Ehefrau kann ein genetischer Fingerabdruck erstellt werden. Immerhin. Nun bittet die Soko zum DNA-Test. Das dauert Wochen, ist letztlich aber wenig zielführend. Verzweifelt klopft Leitmayr bei Kollegin Christine Lerch (Lisa Wagner) von der Operativen Fallanalyse an. Die ist zwar auf dem Sprung zum FBI, hat zum Abschied aber noch ein paar richtig kreative Profiling-Ideen.

Tatort – Die WahrheitFoto: BR / Hagen Keller
Kommt man so der Wahrheit auf die Spur? Die Soko bittet zum DNA-Test. Viel Aufwand wird bei dieser „Tatort“-Produktion nicht nur innerhalb der Filmhandlung getrieben. Der Aufwand muss sichtbar sein!

Der BR-„Tatort“ bricht aus der Routine der Fernsehwahrheitssuche aus
Eine Tat ohne Täter-Opfer-Beziehung. Keinerlei Spuren, die vom Opfer zum Mörder führen könnten. Dazu Zeugenaussagen, die unbrauchbar sind. Und ein DNA-Test, der zunächst nicht den erhofften Erfolg bringt. Auch so kann für ein Ermittler-Team in der Realität die Suche nach der Wahrheit aussehen. Die deutschen Krimi-Macher verschonen für gewöhnlich die Zuschauer mit solchen deprimierenden Ausnahmesituationen: Ein einigermaßen reibungsloses Ermitteln gehört zum Fernsehkrimi-Ritual. Der BR-„Tatort – Die Wahrheit“ bricht nun mit dieser Gewohnheit. Angedeutet wurde diese krimiphilosophische Tendenz schon im letzten „Tatort“ aus München mit dem im Nachhinein geradezu prophetischen Titel: „Mia san jetz da wo’s weh tut“. Im 73. Fall des in Ehren ergrauten Top-Duos Leitmayr & Batic tut es nun richtig weh. Allen Beteiligten. Das Krimidrama von Sebastian Marka nach dem schmerzvoll konsequenten Buch von Erol Yesilkaya (beide waren 2015 für den Ausnahme-„Tatort – Das Haus am Ende der Straße“ verantwortlich, ein furioses Król-Rohde-Genre-Doppel) nimmt einen mit auf den schrecklichen Weg eines schrecklichen Falls, bei dem die Ermittlungen immer wieder feststecken und sich über Monate hinziehen. Alle leiden. Da sind die Hinterbliebenen. „Wie sollen wir neu anfangen, bevor das Alte nicht abgeschlossen ist?“, fragt die Frau, die zur Witwe geworden ist, weil ihr Mann einem anderen die Hand reichte. Auch wenn die Geschichte diese (inhumane) Dimension des Falls nicht näher ausführt, so dürfte doch dieses Bild, diese Geste der Nächstenliebe, dem Zuschauer als Symbol für diesen perfiden Mord im Gedächtnis bleiben. Wer rechnet mit so was?! Auch die Kommissare leiden. „Unser Leben ist der Tod – immer nur Leichen!“, sinnieren die beiden im Schlussdrittel, nachdem sie ihren Frust ertränkt haben. Leitmayr frisst alles still und leise in sich hinein, wird von seinem Chef zusammengefaltet auf eine Art und Weise, wie selten ein Kommissar im „Tatort“ erniedrigt wurde. Mit Batic indes gehen früh die kroatischen Nerven durch; danach macht er sich auf einen eher humanitären Weg, indem er dem Mord-Bild ein anderes Bild entgegensetzt und mit seiner Fürsorge für die japanische Witwe und ihren Sohn Erinnerungen an einen anderen großen „Tatort“ aus München weckt: Dominik Grafs „Frau Bu lacht“.

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„Meine Soko, meine Verantwortung!“, so Leitmayr (Udo Wachtveitl). Er hofft auf den genetischen Fingerabdruck. Batic (Miroslav Nemec) würde die Befragungen dennoch nicht abbrechen. Der Kroate ist in diesem „Tatort“ die Stimme der Menschlichkeit, während sich Leitmayr lieber an das Faktische, das technisch Machbare, hält. Trotz der Gegensätze nicht der übliche „Ehekrieg“!

Der Täter droht, zum Phantom zu werden, die Opfer rücken in den Fokus
Mit der Illusion zu brechen, die dem Krimi im Fernsehen zur zweiten Natur geworden ist, hat selbstredend grundlegende Konsequenzen auch für die Dramaturgie und die Genre-Tonart: Es ist bald absehbar, dass es bei dem Fall kein rasches Vorankommen geben wird. In der narrativen Konsequenz kann das nur bedeuten, dass das Drama über die Konventionen des Ermittlungskrimis obsiegen muss. Und das gelingt diesem „Tatort“ außergewöhnlich gut. Stichwort: perspektivisches Erzählen. Als Batic, der Mann für den subjektiven Blick im Film, der, der quasi das emotionale Gewissen verkörpert, um ein Gespräch mit dem Arzt bittet, hört man diesen sagen, „es gab ein paar Komplikationen“, während sich die Tür hinter dem Kommissar schließt; Sekunden später tritt Batic wieder aus dem Zimmer in den kahlen Klinikflur, wo sein Blick auf Taro und seine Mutter fällt. Die Information, dass Ben Schröder gestorben ist, hätte man in einem 08/15-Krimi auch telefonisch übermitteln können, in „Die Wahrheit“ geht es aber insbesondere darum, wie sich die problematische Wahrheitsfindung auf die Menschen auswirkt, die nach der Wahrheit suchen. Diese Szene ist nicht nur erzählökonomisch brillant, sondern schafft auch eine Verbindung zwischen dem Kommissar und der Witwe und ihrem Sohn, die zunehmend enger werden wird. Mit dem Verzicht auf die krimiübliche Täter-Fixierung rückt automatisch die Opfer-Perspektive in diesem Krimi stärker in den Fokus. Und die Kommissare, die über ihre Schmerzgrenze hinaus gehen müssen (Batic wird in der Klinik-Szene noch von einer Panikattacke übermannt), sind letztendlich bei diesem Fall auf ihre Weise auch Opfer. Von den guten alten „Professionals“ ist wenig geblieben.

Tatort – Die WahrheitFoto: BR / Hagen Keller
Die Seele eines Kindes, die japanische Kultur, die Empathie des Kommissars – ein bisschen erinnert dieser Film, was Struktur & Motive angeht, an einen über 20 Jahre alten „Tatort“-Klassiker: „Frau Bu lacht“ von Dominik Graf. Die Inszenierung geht allerdings einen anderen Weg: Reduktion statt kultureller Zauber.

Ein Höchstmaß an Klarheit & Konzentration und die Wegweiser zur Wahrheit
Klarheit und Konzentration sind die Stilprinzipien nicht nur der Geschichte, die auf die üblichen auf Abwege führenden Krimi-Nebenstränge verzichtet, sondern auch der dichten filmästhetischen Umsetzung. Während Autor Yesilkaya in vielen Szenen dorthin geht, wo es weh tut und die Situationen psychologisch sehr genau ausspielt, nutzt Regisseur Marka perfekt die Möglichkeiten seiner Gewerke. So sind Kamera und Szenenbild perfekt aufeinander abgestimmt: Der Blick seziert die Wirklichkeit, die Räume – ob Klinik oder Kommissariat – sind grau, trostlos, ein penetranter Grünstich legt sich als ungemütliche Grundfärbung zeitweise über die Dinge. Eine eigene Note verleihen auch die markanten, aufs Wesentliche reduzierten Dialoge, die häufig mit tieferen, erst später erkennbaren Bedeutungen aufgeladen sind („Haben Sie denn niemanden, für den es sich lohnt zu lügen“). Inhaltlich und strukturell gleichermaßen interessant sind die „Kalendersprüche“, die immer wieder als eine Art Motto ins Bild gerückt werden: In ihnen mag sich die Sehnsucht nach einfachen Wahrheiten („Jeder Tag ist ein neuer Anfang“) spiegeln, vor allem aber und darin sind sie eben alles andere als simple Kalendersprüche sind sie logische Sentenzen („Wer die Wahrheit sucht, darf nicht erschrecken, wenn er sie auch findet“), philosophische Wegweiser („Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht“) durch die Irrungen und Wirrungen dieses vermaledeiten Falls. „Der erste Eindruck ist wichtig, aber der zweite enthüllt die Wahrheit“, ist im Bild zu lesen, bevor Leitmayr bei der hauseigenen Profilerin vorbeischaut (wenige Szenen, aber so was von auf den Punkt: Lisa Wagner), die auch glatt einen Perspektivwechsel initiiert, der den Plot mächtig belebt, für eine weitere Leiche sorgt und in letzter Konsequenz auf der Zielgeraden noch mit einer spannenden Thriller-Sequenz aufwartet. Für den Zuschauer trifft es der Satz „Der erste Eindruck ist wichtig, aber der zweite enthüllt die Wahrheit“ eher weniger. Dieser „Tatort“ verrät einem schon mit den ersten Bildern vom Münchner Alltag und mit der anschließenden Mord-Szene, dass einem hier etwas Außergewöhnliches bevorsteht.

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BR

Mit Udo Wachtveitl, Miroslav Nemec, Luka Omoto, Leo Schöne, Ferdinand Hofer, Lisa Wagner, Stefan Betz, Jürgen Tonkel, Cem Ali Gültekin, Robert Joseph Bartl, Markus Brandl

Kamera: Willy Dettmeyer

Szenenbild: Maximilian Lange

Kostüm: Sylvia Risa

Schnitt: Dirk Göhler

Musik: Thomas Mehlhorn

Produktionsfirma: X Filme Creative Pool

Drehbuch: Erol Yesilkaya

Regie: Sebastian Marka

Quote: 9,52 Mio. Zuschauer (26% MA); Wh. (2023): 5 Mio. (21,3% MA)

EA: 23.10.2016 20:15 Uhr | ARD

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