Der minderjährige Killer kommt gerade erst in Hamburg an, streift nervös und von Koks aufgeputscht durch St. Pauli, wartet im Treppenhaus auf sein Opfer und sticht dann mehrfach auf die Kiez-Größe Johannes Pohl ein. Allerdings lässt er seine Jacke am Tatort zurück und verliert auch sein Handy, auf dem das Rückfahrt-Ticket nach Bukarest gespeichert ist. Matei, herausragend gespielt vom jungen rumänischen Schauspieler Bogdan Iancu, handelt brutal und wirkt gleichzeitig verloren und heillos überfordert – eine spannende Täter-Figur, die zwiespältige Gefühle weckt. Im „Tatort – Die goldene Zeit“ steht Matei gleichzeitig für die Veränderungen auf dem Kiez. Drehbuch-Autor Georg Lippert („Tatort – Böser Boden“) hat sich von einem Zeitungsinterview mit Eddy Kante, dem Ex-Bodyguard von Udo Lindenberg, inspirieren lassen: „Früher hätten die Luden ihre Konflikte noch vor der Tür mit Fäusten ausgetragen. Heute würde man 14-jährige Kinder aus Osteuropa mit einem Messer losschicken und sie nach der Tat sofort zurück über die Grenze schleusen“, gibt Lippert die Aussagen Kantes wieder. „Es gebe auf der Meile keine Ehre mehr.“
Ob da die alten Zeiten und die Luden-„Ehre“ nicht arg nostalgisch verklärt werden, sei mal dahingestellt, aber aus dem Spannungsfeld von Vergangenheit und Gegenwart wird in diesem Kiez-Krimi weitgehend überzeugend Kapital geschlagen. Ohnehin ist Thorsten Falke (Wotan Wilke Möhring) von der Bundespolizei ein Typ, der zum rauen Milieu passt. Er hätte genauso gut auf der anderen Seite landen können. Falke arbeitete in jungen Jahren als Türsteher auf St. Pauli und trifft nun seinen „Ausbilder“ von einst wieder: Michael Lübke (toll als in die Jahre gekommener „Kiez-Köter“: Michael Thomas) war einst eine St.-Pauli-Legende. Als „Eisen-Lübke“ sorgte er für die Sicherheit von Kiez-Größe Egon Pohl (Christian Redl), dessen Sohn nun getötet wurde. Doch die Zeiten haben sich geändert. Der alte, demente Pohl lebt im Pflegeheim, seine Tochter (Deborah Kaufmann) leitet lieber eine Stiftung zur Förderung für Hochtalentierte und Lübke wäscht nur noch die Autos der Familie. Wenn er an der Shisha-Bar der neuen Kiez-Konkurrenz aus Albanien vorbeikommt, erntet er Spott und wird mit Pommes beworfen. Nach dem Mord an Pohls Sohn Johannes sieht er aber seine Chance gekommen.
Lübke war als Erster am Tatort, ruft anonym die Polizei, findet Mateis Handy und schließlich auch Matei selbst. Eigentlich will er ja den „Killer“ umbringen, um bei den Pohls wieder den alten Job zurückzubekommen, aber dann entwickelt sich zwischen dem Alten und dem Kind eine ganz eigene Beziehung – eine spannende Annäherung, die glaubwürdig, ohne Kitsch und berührend von Bogdan Iancu und Michael Thomas gespielt wird. Die junge Regisseurin Mia Spengler („How to sell drugs online (fast)“) gibt diesem zentralen Figuren-Duo bei ihrem „Tatort“-Debüt ausreichend Zeit, sich zu entfalten und Tiefe zu entwickeln. Für andere Protagonisten, vor allem den jungen Albaner-Chef Krenar Zekaj (Slavko Popadic) und seine muskelbepackten Begleiter, gilt das weniger. Auch ist die Krimi-Story jenseits der speziellen Geschichte um Matei und „Eisen-Lübke“ nicht übermäßig einfallsreich und wird mit einer recht vorhersehbaren Wende aufgelöst.
Die Ermittler Falke und Grosz (Franziska Weisz) erweisen sich mittlerweile als eingespieltes Team. Dass sich da über mehrere Folgen ein freundschaftliches Verhältnis entwickelt hat, wird ohne großes Brimborium erzählt. Zumindest in dieser Folge erhalten sie jedoch Verstärkung: Jonathan Kwesi Aikins spielt den LKA-Beamten Thomas Okonjo, der den Cast etwas diverser macht, aber weitgehend vom Schreibtisch aus operiert. Gemeinsam steht das Trio erst mal auf der Leitung. Obwohl ein Überwachungsvideo die Tat zeigt und auch die Anwesenheit Lübkes am Tatort offenbart, kommen sie erst spät auf den Trichter, dass Falkes alter Bekannter das Handy von Matei genommen haben könnte. Während Falke nun in altbekanntes Milieu eintaucht, ist Grosz insbesondere vom scheinbar liberalen Bordellchef Roman Kainz (Roland Bonjour) genervt, der das Bild einer neuen, heilen Welt der Prostitution zeichnet. Die Huren von heute – alles freie, selbstbestimmte Sex-Arbeiterinnen? Auch die jungen Frauen aus Osteuropa, die wie Matei mit dem Bus anreisen, um hier eine Zulassung zu erhalten und ein Zimmer in Pohls Groß-Puff „Love Dome“ anzumieten? Nebenbei thematisiert dieser „Tatort“ also eine andere Art von Wandel auf dem Kiez: die umstrittene Liberalisierung von Prostitution, die Deutschland zu einem beliebten Reiseziel für Sex-Touristen gemacht hat.
Darüber hinaus zeichnet Mia Spenglers Inszenierung eine bildstarke Verortung im St. Pauli der Gegenwart aus. Gedreht wurde auf den Straßen des Vergnügungsviertels, der Film saugt die Atmosphäre mit auf. Abends lockt die leuchtende Neonreklame der zahlreichen Clubs, tagsüber werden Touristen durch den Kiez geführt, der zur Massen-Attraktion für Ballermänner und -frauen geworden ist. Die Nostalgie blüht dagegen in einer alten, wenig bevölkerten Kneipe, in der es nach kaltem Rauch und abgestandenem Bier riechen dürfte, wenn es denn Geruchsfernsehen gäbe. Hier steht Katharina Vanas (Jessica Kosmalla) hinter dem Tresen, eine Freundin Lübkes, die es aus dem Elend der Prostitution geschafft hat. An der Wand hängt ein Foto von einer jungen, lachenden, lebenslustigen Katharina. Auch der junge Falke war hier oft Gast – und kippt sich nun wie früher Schnaps in die Milch. Mehmet, seinen besten Freund aus jenen Tagen, gibt es nur noch auf Fotos. Eine „goldene Zeit“, wie der Titel verheißt? Es wird bisweilen melancholisch, aber nicht verklärend oder romantisierend.