Maske auf und rein. Die Zwangs-Räumung läuft strikt nach Corona-Regeln. Die Firma hält sich dran. Dafür vergisst man alte Versprechen und Absprachen. Das Immobilienbüro Ceylan, neuer Besitzer des Mietshauses Georgistraße 37, lässt die Wohnung der Wagners räumen. Umzugsunternehmer Schmiedtchen (Ingo Hülsmann) erledigt die Drecksarbeit. Alles läuft nach Plan. Bis am nächsten Morgen der Juniorchef der Immobilienfirma Ceylan tot vorm Haus liegt. Cem Ceylan ist aus großer Höhe gefallen. Rubin (Meret Becker) und Karow (Mark Waschke) klingeln sich durch die Stockwerke. Keiner hat was bemerkt, ein jeder hat sich mit seiner Kündigung arrangiert, hat sich abgefunden, Geld genommen. Aber wen hat Cem Ceylan am Tatort getroffen? Wer stieß ihn vom Balkon der leerstehenden Ferienwohnung, die jetzt Gästewohnung heißt, damit man sie weiterhin auf Zeit vermieten kann? Unter den vier noch im Haus befindlichen Mietparteien nimmt Karow vor allem den wütenden Wagner (Peter René Lüdicke) und den jungen Mietrebell Dries (Tijmen Govaerts) ins Visier. Aber auch im hierarchischen Gebälk der Immobilienfirma Ceylan lauern Abgründe. So schweigsam die trauernde Chefin, Cems Mutter Gülay (Özay Fecht), so widersprüchlich die Aussagen ihrer Tochter Yeliz (Sesede Terziyan) und ihres Schwiegersohns Thomas (Florian Anderer).
Schon überraschend, wie selbstverständlich das Berliner Duo in seinem 13. Fall an die Arbeit geht. Das persönliche Chaos der Kommissare bleibt im Hintergrund. Das dient dem nüchternen Tonfall der Ermittlungen. Berlin ist in „Tatort – Die dritte Haut“ ein trauriges Pflaster, ein nachtblauer Hort voll unbehauster Menschen. Blau und Gelb ¬ weil auch Berliner Kommissare inzwischen häufiger mit der BVG als mit dem Dienstwagen durch die Nacht fahren. Statt mit den oft bemühten Rio-Reiser-Protest-Songs begleitet die Kamera des niederländischen Kinofilm-Bildgestalters Richard von Oosterhout die (Wohnungs-)Suchenden mit unaufdringlichen Jazzklängen. Alles sehr dezent eingesetzt. Musik soll hier nichts überlagern oder gar die Erzählung übernehmen. So gleitet ein Berlin mit zerfetzten Wohnungs-Suchanzeigen an jeder Ecke am Auge des Zuschauers vorbei. Bis wir wieder am Tatort sind.
Foto: RBB / Gordon Mühle
Weil die Geschichte so sehr im Hier und Jetzt der Berliner Lebenssituation spielt, habe ich versucht, das tägliche Leben in der Stadt so weit wie möglich in die Geschichte zu integrieren und die Grenze zwischen Fiktion und Realität zu verwischen. Viele der Obdachlosen in unserer Geschichte leben tatsächlich auf der Straße. Die Handlung spielt auf Straßen, Plätzen, unter Brücken und im öffentlichen Verkehr Berlins mitten unter den Passanten. Wir haben den Film im letzten Herbst gedreht. Es ist der 51. „Tatort“-Jahrgang, und da jede Folge auch einen Teil der Geschichte Deutschlands erzählt, wollte ich die Gegenwart mit ihren Corona-Maßnahmen, den Mundnasenmasken und Plexiglasschirmen, im Bild eine Rolle spielen lassen. So wird diese Episode auch zu einem Andenken an eine Zeit, die sich hoffentlich bald wieder ändern wird.
Autorin Katrin Bühlig („Silvia S. – Blinde Wut“ / „Weil du mir gehörst“) legte den Grundstein zu dem, was man lebensnahes Erzählen nennt. Ihr Buch umreißt persönliche Schicksale und arbeitet geschickt mit dem „Nichts-funktioniert-mehr-Gefühl“, das viele Menschen dieser Tage beschleicht. In diesem Geflecht aus Unsicherheit und Abhängigkeiten wird eine langjährige Mieterin wie Ilse Kirschner (Friederike Frerichs) zum „Verwertungshemmnis“, eine alleinerziehende Mutter wie Jenny Nowack (Berit Künnecke) zur „Unvermittelbaren“. Das Dokumentarische der Erzählung unterstreicht der niederländische Regisseur und Teilzeit-Wahlberliner Norbert ter Hall in seiner ersten Produktion fürs deutsche Fernsehen noch durch eingeschobene Stills. Gesichter und Sätze von Wohnungslosen, die, unabhängig vom Lauf der Krimihandlung und ihrem Personal, dem Zuschauer zwischendurch in die Augen schauen.
„Als ich in den Nachrichten sah, dass sich über 800 Leute bei einer Wohnungsbesichtigung im Prenzlauer Berg drängelten, war mir sofort klar, dass das Thema auch ein ‚Tatort‘-Thema ist“, so Autorin Katrin Bühlig. Wir ergänzen: Das ist es am Tatort in Köln oder München schon lange. In Abgrenzung zu diesen, manchmal ins sozialpolitische Lehrstück abdriftenden Fällen, bewahrt sich das Berliner Team jedoch seine Eigenheiten. Es verzichtet auf krimikonforme Immobilienhaie und Konzernbosse, mit denen man mittlerweile ganze Baugruben füllen kann. Stattdessen stoßen hier Menschen, denen auch der letzte Rest zu einer würdigen Existenz genommen wird, auf andere, die endlich und dann gleich viel zu viel vom Kuchen wollen. Dazwischen übernimmt das Stammpersonal in gewohnter Qualität. Zu den besten Momenten in „Tatort – Die dritte Haut“ gehört Karows Blick auf den selbsternannten Mietrebell Dries, der seine Mission wie ein Justin Timberlake für Arme auf You-Tube inszeniert. Auch Meret Becker hält in ihrer vorletzten Vorstellung als Nina Rubin, was sie subtil schon immer versprach. Als sie erfährt, dass auch ihre Wohnung zum Verkauf steht, gönnt sie sich nach viel Wein und einem einsamen Wohnzimmertanz eine (sexuelle) Ablenkung, die selbst ihrem abgebrühten Kollegen ein Fragezeichen ins Gesicht zaubert.
Foto: RBB / Gordon Mühle