Im Kofferraum eines Unfallwagens liegt eine nicht mehr ganz frische Leiche. Die tote Marianne Heider lag bereits vor Tagen unterm Messer des Stuttgarter Rechtsmediziners. Jetzt wollte ihr Ex-Mann Christoph Heider (Oliver Reinhard) den Leichnam außer Landes bringen, um ihn dort obduzieren zu lassen. Auf die deutschen Behörden ist er nicht gut zu sprechen. Er ist davon überzeugt, dass seine Frau von ihrem neuen Lebenspartner, Wilhelm Jordan (Hannes Jaenicke), ermordet worden ist. Heiders Tod liegt aber bereits als Unfall deklariert bei den Akten, obwohl auch der Rechtsmediziner eher zu Mord tendiert hätte. Und dass die Tote erst unlängst eine Lebensversicherung über 400.000 Euro abgeschlossen hat zugunsten jenes halbseidenen Mannes macht ihn nicht unverdächtiger. Lannert (Richy Müller) und Bootz (Felix Klare) ermitteln also weiter – entgegen der Weisung von Oberstaatsanwalt Lutz (Friedrich Mücke). Der weiß bald mehr als die Kripo: Jordan ist V-Mann bei einer anderen Operation; er soll er das Ex-RAF-Mitglied Astrid Frühwein (Heike Trinker) den Behörden ans Messer liefern. Als Verräter hat Jordan einschlägige Erfahrungen. Aber kann es sein, dass der Verfassungsschutz einen Mord vertuscht, nur um einen anderen Fall abzuschließen?!
Foto: SWR / Julia von Vietinghoff
Kommissar Bootz ist empört, und Kollege Lannert fühlt sich an alte Zeiten erinnert: als man am Staat (ver)zweifelte, und dem Verfassungsschutz alles zutraute. „Der rote Schatten“ erinnert an den Herbst 1977, der sich vor den Toren Stuttgarts mit der „Todesnacht von Stammheim“ am 18. Oktober zugespitzt hatte. Dieser „Tatort“ nimmt anhand eines fiktiven Falls den Mythos jenes „Deutschen Herbsts“ wieder auf, stellt die Fragen von damals in dem veränderten Kontext eines Krimis neu und verzichtet dabei auf jegliche Gedenkfernsehrituale. Da der unter Mordverdacht stehende Jordan, der vor 40 Jahren in die RAF eingeschleust wurde, einem Terroristen damals außergewöhnlich ähnlich sah, ergaben sich mit ihm ungeahnte Möglichkeiten für das staatliche Falschspiel. Mit der Geschichte von Jordans „Doppelgänger“ bei der RAF, der sich in den Zeugenschutz nehmen ließ und gegen seine Genossen als Kronzeuge aussagte, gelingt es dem Film, stimmig in die Vergangenheit einzutauchen und aufzuzeigen, was für eine gefährliche Gratwanderung es doch ist, wenn der Staat mit seinen Feinden gemeinsame Sache macht. Die Polizisten vermuten sogar, jener RAF-„Verräter“ Holger Stängel und Jordan könnten ein und dieselbe Person sein. Über die damalige Aussage Stängels, wie die Waffen in die Zellen von Andreas Baader, Jan-Carl Raspe und Gudrun Ensslin gelangen konnten, gerät Lannert durch seine Befragungen mittenrein in die Legenden bildende Stammheimer Todesnacht. Und Graf & Co spielen die Varianten durch: Selbstmord, staatlich geförderter Selbstmord, Mord. Diese Tötungsvarianten werden auch im Bild dargestellt – in Form fingierter dokumentarischer Aufnahmen, passend und ganz im Stile der Doku-Passagen, die mehrfach in den Spielfilm eingeschnitten sind.
Nimmt sich ein Fernsehfilm, noch dazu eine populäre Reihe wie der „Tatort“, dem sogenannten „Deutschen Herbst“ an, ist die Frage der Fragen: Wie vermittelt man einem (jüngeren) Publikum, das wenig Kenntnis besitzt von der RAF, jenen politisch bewegten Jahren und konkret von den Ereignissen in und um Stammheim im Oktober ’77, eine solche Geschichte? Welche Mittel wählt man, um dem unwissenden Zuschauer das nötige Wissen nachzureichen, ohne ihm dabei ein ungutes Gefühl (des Ungebildetseins) zu geben und den Wissenden nicht zu langweilen? Die dokumentarischen Bilder sind eine Möglichkeit. Im Schlussdrittel wird aus Schnipseln von „Tagesschau“, Dokus & Reportagen eine dreiminütige Schnelldurchlaufchronik erstellt, die deutlich macht, wie der linke Protest zum gewaltsamen Widerstand wurde und schließlich terroristische Züge annahm. Noch vor diesem Fakten-Check wird der Zuschauer emotional an das Thema herangeführt. Der erfahrene Polizist erklärt dem 20 Jahre jüngeren Kollegen, was für ein Geist damals herrschte – und er outet sich als sogenannter „Sympathisant“. Auch er sei einer der Langhaarigen gewesen, die die Welt verändern wollten. Aber die RAF habe schließlich die Neugier, die Sehnsucht weggebombt. Die Identifikationsfigur Lannert mit den politischen Inhalten aufzuladen, ist dramaturgisch wohl die beste Idee des Drehbuchs. Richy Müllers Stuttgarter Kommissar ist im Übrigen die einzige „Tatort“-Figur, der man diesen Bezug zur RAF abnehmen kann. Bei Sabine Postels Lürsen, Axel Milbergs Borowski und Udo Wachtveitls Leitmayr würde zumindest das Alter passen, aber bei der Bremerin wäre die linke Vergangenheit nur eine Wiederauflage (und stark klischeegefährdet), der Mann aus Kiel dürfte immer schon ein Einzelgänger gewesen sein und der „schaun-mer-mal“-Münchner ist ein zu liberales Leichtgewicht. Die dritte Variante des Transfers politischer Fakten bildet das Interview: Der Polizist als Rechercheur, der einen Journalisten und einen leitenden Ex-Kollegen befragt. Auch wenn Michael Hanemann seinen Auftritt als jener Beamte, der die Stammheim-Todesfälle untersucht hat, in weinbeseelter Plauderstimmung (endlich interessiert sich mal jemand für diese – seine – alten Geschichten!) äußerst abwechslungsreich und nuanciert gestaltet – Aufmerksamkeit muss man als Zuschauer für diese Dialogpassagen schon mitbringen.
Foto: SWR / Julia von Vietinghoff
Die Filme von Dominik Graf, besonders seine Krimis und Polizeithriller, faszinieren häufig durch ihren Erzählrhythmus, bestechen durch eine kunstvolle Form der Montage. Auch in „Der rote Schatten“ werden immer wieder Szenen unterbrochen, werden aufgebrochen durch Rückblenden, Fotos, informative Einschübe, die zeigen, was war oder was gewesen sein könnte. Die Mischung aus Spiel- und Dokumentarbildern sorgt dabei für einen besonderen Reiz. In Grafs Hang zur „Zersplitterung“ mag sich eine Weltsicht spiegeln, die keine Übersichtlichkeit kennt und Ordnung verlogen findet. Das ist auch dem Genre geschuldet: im Krimi und im Gesellschaftsthriller geraten die sozialen Systeme besonders nachhaltig durcheinander. Andererseits bringt die Montage – wichtig für die Wahrnehmung – auch Dynamik ins Spiel und Sinnlichkeit in die Bilder. In „Der rote Schatten“ wirkt nichts gewollt. Mit der „Sprunghaftigkeit“ seiner Inszenierung übertreibt es Dominik Graf diesmal nicht. Er tut gut daran, auf technische Spielereien zu verzichten – und nach einer Weile sogar den (viele Zuschauer nervenden) Polizeifunk abzustellen. Die Geschichte ist komplex und dicht genug. Graf weiß, wo er als Regisseur eingreifen muss, damit die Dialoglast den Zuschauer nicht erschlägt, er weiß aber (mittlerweile) auch, dass zu großes filmisches Chaos von der Geschichte nur noch mehr ablenkt. Dafür haben es einige Schauspielerauftritte umso mehr in sich. Neben der Hanemann-Performance zeigt Hannes Jaenicke mal wieder sein anderes Gesicht, jenseits seiner glatten Erfolgstypen: Wilhelm Jordan ist ein Charakter, der echtes Leben inhaliert hat. Und Heike Trinker besticht fast ohne Worte („Du warst immer mein schönster Verräter“) als Frau der Tat und des Blicks. Wichtigste Figur aber ist Thorsten Lannert (und Richy Müller geht im Grafschen Politkosmos richtig auf): Er fragt, hört zu, denkt nach, holt sich die eigene Geschichte melancholisch ins Gedächtnis zurück und belächelt abgeklärt die vom Verfassungsschutz inszenierte Show. (Text-Stand: 30.9.2017)