„Übertötung“ konstatiert Schenk (Dietmar Bär). „Das spricht für Wut und Leidenschaft.“ Krankenschwester Susanne Elvan wurde auf dem Weg zur Arbeit mit 12 Messerstichen förmlich erlegt. Fortan beschuldigen sich ihr Mann, der haftentlassene Gewaltverbrecher Tarek (Sahin Erylmaz), und ihr Ex-Mann (Nikolaus Benda), auch kein Kind von Traurigkeit, gegenseitig. Ganz so einfach kann es nicht sein. Um dem wahren Täter auf die Spur zu kommen, müssen Ballauf (Klaus J. Behrendt) und Schenk den „Reiz des Bösen“ tiefer ergründen. Die ihnen vertraute Psychologin Rosenberg (Juliane Köhler) und die in den Fall involvierte JVA-Psychologin Ansbach (Tanja Schleiff) klären die Kommissare über das Phänomen Hybristophilie auf. Aber die Zuneigung mancher Frauen zu gewalttätigen Männern klärt nicht den Fall. Wertvolle Hilfe wartet stattdessen, wo keiner sie vermutet: Mit dem ersten Foto vom Tatort schießt der Puls von Kollege Jütte (Roland Riebeling) in die Höhe. Ein Tatdetail verrät ihm, dass er dem Mörder von Susanne Elvan schon mal auf der Spur war.
Die ersten 15 Minuten von „Der Reiz des Bösen“, der 82. Episode aus Köln, versorgen den „Tatort“-Fan mit Standards. Freddy fährt in einem besonders geilen Wagen aus der Asservatenkammer vor, der Doc (Joe Bausch) trägt wieder zwei Falten mehr im Knautschgesicht und Jütte philosophiert über eine Schnecke auf seiner Tastatur. Willkommen bei den Kümmerern aus Köln. Das könnte alles eher schnarchig werden. Wäre da nicht die seltsame Wandlung Jüttes vom Büroschläfer zum Getriebenen und eine ockerfarbene Parallelgeschichte in Moll. Die erzählt von der Brieffreundschaft und jungen Liebe der alleinerziehenden Ines (Picco von Groote) zu Häftling Basso (Torben Liebrecht). Wochenlang schon schreiben sie sich, jetzt steht Bassos Entlassung vor der Tür. Ines arrangiert schon die Blumen auf dem heimischen Esstisch, da betrachtet er versonnen eine Kakerlake, die in der Zelle über seine Finger balanciert. Wer ahnt da nicht die Vorgeschichte des nächsten Opfers? Ja, naja, abwarten. Geschickt verwebt das Drehbuch von Arne Nolting und Jan Martin Scharf (auch Regie) die Geschichte von Basso, Ines und deren kleinen Sohn Lenny (Wulf Kurscheid) mit den aktuellen Ermittlungen. Dank Jüttes Input wissen die Kölner bald, dass sie einen Serientäter suchen, für den bereits ein anderer seit Jahren im Gefängnis sitzt.
„Wir waren fasziniert von der Tatsache, dass die schlimmsten Gewaltverbrecher zum Teil Wäschekörbe voll Liebesbriefe bekommen und wollten wissen, wie das weitergeht, wenn diese Männer nach ihrer Strafe dann zu den Frauen ziehen.“
„Was die Inszenierung angeht, ist es mir immer ein Anliegen, maximale Glaubwürdigkeit zu erreichen – was gerade, wenn man einen steilen Twist in der Erzählung hat, eine herrliche Herausforderung ist. Denn die Situationen müssen für den Zuschauer gewissermaßen gleich zweimal glaubwürdig sein. Vor dem Twist – aber auch danach…“ (Jan Martin Scharf, Ko-Autor & Regisseur)Soundtrack: Cigarettes after Sex („Nothing`s gonna hurt you, baby“), My Brightest Diamond („Feeling Good“)
Das Verhör mit dem Unschuldigen beschert dem „Tatort – Der Reiz des Bösen“ in Minute 54 ein echtes Highlight. Wie ein weißer Monolith sitzt Arved Birnbaum („Die Zielfahnder – Flucht in die Karpaten) alias Johann Rehbaum den Kommissaren gegenüber. Schön auch, dass die es völlig unnötig finden, dass man dem Mann mit mangelnder Impulskontrolle eine Maske angelegt hat. Wir sind schließlich nicht beim „Schweigen der Lämmer“. Aber unheimlich ist einem schon. Nach dem Scherz mit der Maske durchweht ein Hauch von Mindhunter-Grusel die Szenerie. Gleich nach diesem „freezing moment“ zieht die Geschichte deutlich an. Eine neu erkannte Gemeinsamkeit der Opfer führt zu einem neuen Verdacht und zu einer Befragung, die Ballauf und Schenk endlich auf die richtige Fährte setzt. Auch der Zuschauer (der lange schon mehr weiß als die Ermittler) wischt sich hier nochmal über die Augen. Für „slow Joe in the back row“, also die Naiven unter uns, erklärt Schenk auf dem Weg zum Wagen dann noch mal ganz genau, worum es hier geht. Ziemlich gemein, ziemlich gut.
Das seit 20 Jahren erprobte Autorenduo Nolting/Scharf („Weinberg“, „Club der roten Bänder“: für beide Bücher gab’s den Grimme-Preis) hat für seinen zweiten WDR-Tatort nach „Weiter immer weiter“ (2019) einen originellen Erzählansatz gefunden. Egal, wann der Zuschauer auf den eingebauten Twist kommt, die Story bleibt glaubwürdig und das ist die Kunst. Und Ballauf & Schenk bleiben nach fast einem halben Jahrhundert, was sie sind: zwei Kripo-Beamte, beanspruchen als Ermittler aber gerade nur so viel Raum, wie es braucht. Picco von Groote und Torben Liebrecht spielen wunderbar das Paar, dessen Glück auf tönernen Füßen steht. Ein spannend gebauter Fall mit später Auflösung und dem lang ersehnten Befreiungsakt für den dritten Mann im Kölner Kommissariat. (Text-Stand: 24.8.2021)