Tatort – Der Reiz des Bösen

Behrendt, Bär, Riebeling, von Grote, Liebrecht, Nolting/Scharf. Jütte im Turbogang

Foto: WDR / Martin Valentin Menke
Foto Martina Kalweit

Die Kölner Kommissare ermitteln im Fall einer ermordeten Krankenschwester. Susanne Elvan gehörte zu einer kleinen Gruppe von Frauen, die über vermittelte Brieffreundschaften zu inhaftierten Männern ihr Glück suchen. Das kann gut gehen, muss aber nicht. Der „Tatort – Der Reiz des Bösen“ widmet sich der Vorgeschichte eines Verbrechens, reflektiert die Risiken, die das Zugeständnis einer zweiten Chance mit sich bringt und erzählt eine (trotz Mehrwissen des Zuschauers) gut getarnte Rachegeschichte. Ein spannend gebauter Fall mit später Auflösung und lang ersehntem Befreiungsakt für den dritten Mann im Kommissariat.

„Übertötung“ konstatiert Schenk (Dietmar Bär). „Das spricht für Wut und Leidenschaft.“ Krankenschwester Susanne Elvan wurde auf dem Weg zur Arbeit mit 12 Messerstichen förmlich erlegt. Fortan beschuldigen sich ihr Mann, der haftentlassene Gewaltverbrecher Tarek (Sahin Erylmaz), und ihr Ex-Mann (Nikolaus Benda), auch kein Kind von Traurigkeit, gegenseitig. Ganz so einfach kann es nicht sein. Um dem wahren Täter auf die Spur zu kommen, müssen Ballauf (Klaus J. Behrendt) und Schenk den „Reiz des Bösen“ tiefer ergründen. Die ihnen vertraute Psychologin Rosenberg (Juliane Köhler) und die in den Fall involvierte JVA-Psychologin Ansbach (Tanja Schleiff) klären die Kommissare über das Phänomen Hybristophilie auf. Aber die Zuneigung mancher Frauen zu gewalttätigen Männern klärt nicht den Fall. Wertvolle Hilfe wartet stattdessen, wo keiner sie vermutet: Mit dem ersten Foto vom Tatort schießt der Puls von Kollege Jütte (Roland Riebeling) in die Höhe. Ein Tatdetail verrät ihm, dass er dem Mörder von Susanne Elvan schon mal auf der Spur war.

Tatort – Der Reiz des BösenFoto: WDR / Martin Valentin Menke
Es bleibt nicht bei harmlosen Brieffreundschaften. Betreibt Gefängnispsychologin Bianca Ambach (Tanja Schleiff) eine Art Partnervermittlung im Knast? Behrendt, Bär

Die ersten 15 Minuten von „Der Reiz des Bösen“, der 82. Episode aus Köln, versorgen den „Tatort“-Fan mit Standards. Freddy fährt in einem besonders geilen Wagen aus der Asservatenkammer vor, der Doc (Joe Bausch) trägt wieder zwei Falten mehr im Knautschgesicht und Jütte philosophiert über eine Schnecke auf seiner Tastatur. Willkommen bei den Kümmerern aus Köln. Das könnte alles eher schnarchig werden. Wäre da nicht die seltsame Wandlung Jüttes vom Büroschläfer zum Getriebenen und eine ockerfarbene Parallelgeschichte in Moll. Die erzählt von der Brieffreundschaft und jungen Liebe der alleinerziehenden Ines (Picco von Groote) zu Häftling Basso (Torben Liebrecht). Wochenlang schon schreiben sie sich, jetzt steht Bassos Entlassung vor der Tür. Ines arrangiert schon die Blumen auf dem heimischen Esstisch, da betrachtet er versonnen eine Kakerlake, die in der Zelle über seine Finger balanciert. Wer ahnt da nicht die Vorgeschichte des nächsten Opfers? Ja, naja, abwarten. Geschickt verwebt das Drehbuch von Arne Nolting und Jan Martin Scharf (auch Regie) die Geschichte von Basso, Ines und deren kleinen Sohn Lenny (Wulf Kurscheid) mit den aktuellen Ermittlungen. Dank Jüttes Input wissen die Kölner bald, dass sie einen Serientäter suchen, für den bereits ein anderer seit Jahren im Gefängnis sitzt.

„Wir waren fasziniert von der Tatsache, dass die schlimmsten Gewaltverbrecher zum Teil Wäschekörbe voll Liebesbriefe bekommen und wollten wissen, wie das weitergeht, wenn diese Männer nach ihrer Strafe dann zu den Frauen ziehen.“
„Was die Inszenierung angeht, ist es mir immer ein Anliegen, maximale Glaubwürdigkeit zu erreichen – was gerade, wenn man einen steilen Twist in der Erzählung hat, eine herrliche Herausforderung ist. Denn die Situationen müssen für den Zuschauer gewissermaßen gleich zweimal glaubwürdig sein. Vor dem Twist – aber auch danach…“ (Jan Martin Scharf, Ko-Autor & Regisseur)

Soundtrack: Cigarettes after Sex („Nothing`s gonna hurt you, baby“), My Brightest Diamond („Feeling Good“)

Tatort – Der Reiz des BösenFoto: WDR / Martin Valentin Menke
Aus der Haft direkt in die Wohnung seiner Traumfrau: Basso (Torben Liebrecht) ist doch nicht ganz so umgänglich, wie Ines (Picco von Groote) es sich erhofft hat. Eine Tragödie bahnt sich an – und nimmt einen etwas anderen Gang als erwartet.

Das Verhör mit dem Unschuldigen beschert dem „Tatort – Der Reiz des Bösen“ in Minute 54 ein echtes Highlight. Wie ein weißer Monolith sitzt Arved Birnbaum („Die Zielfahnder – Flucht in die Karpaten) alias Johann Rehbaum den Kommissaren gegenüber. Schön auch, dass die es völlig unnötig finden, dass man dem Mann mit mangelnder Impulskontrolle eine Maske angelegt hat. Wir sind schließlich nicht beim „Schweigen der Lämmer“. Aber unheimlich ist einem schon. Nach dem Scherz mit der Maske durchweht ein Hauch von Mindhunter-Grusel die Szenerie. Gleich nach diesem „freezing moment“ zieht die Geschichte deutlich an. Eine neu erkannte Gemeinsamkeit der Opfer führt zu einem neuen Verdacht und zu einer Befragung, die Ballauf und Schenk endlich auf die richtige Fährte setzt. Auch der Zuschauer (der lange schon mehr weiß als die Ermittler) wischt sich hier nochmal über die Augen. Für „slow Joe in the back row“, also die Naiven unter uns, erklärt Schenk auf dem Weg zum Wagen dann noch mal ganz genau, worum es hier geht. Ziemlich gemein, ziemlich gut.

Das seit 20 Jahren erprobte Autorenduo Nolting/Scharf („Weinberg“, „Club der roten Bänder“: für beide Bücher gab’s den Grimme-Preis) hat für seinen zweiten WDR-Tatort nach „Weiter immer weiter“ (2019) einen originellen Erzählansatz gefunden. Egal, wann der Zuschauer auf den eingebauten Twist kommt, die Story bleibt glaubwürdig und das ist die Kunst. Und Ballauf & Schenk bleiben nach fast einem halben Jahrhundert, was sie sind: zwei Kripo-Beamte, beanspruchen als Ermittler aber gerade nur so viel Raum, wie es braucht. Picco von Groote und Torben Liebrecht spielen wunderbar das Paar, dessen Glück auf tönernen Füßen steht. Ein spannend gebauter Fall mit später Auflösung und dem lang ersehnten Befreiungsakt für den dritten Mann im Kölner Kommissariat. (Text-Stand: 24.8.2021)

Tatort – Der Reiz des BösenFoto: WDR / Martin Valentin Menke
Kluge Informationspolitik: So lässt man sich das Phänomen Hybristophilie als Zuschauer gern erklären. Mit Hilfe der Psychologin Rosenberg (Juliane Köhler) in einer offenen Diskussionssituation. Davor gab es schon einmal eine Szene mit ihr und Ballauf & einem aparten (nonverbalen) Beziehungssubtext. Bär, Behrendt, Riebeling

tittelbach.tv ist mir was wert

Mit Ihrem Beitrag sorgen Sie dafür, dass tittelbach.tv kostenfrei bleibt!

Kaufen bei

und tittelbach.tv unterstützen!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Reihe

ARD

Mit Klaus J. Behrerndt, Dietmar Bär, Roland Riebeling, Juliane Köhler, Picco von Groote, Torben Liebrecht, Tanja Schleiff, Arved Birnbaum, Sahin Erylmaz, Nikolaus Benda, Theo Trebs, Joe Bausch

Kamera: Felix Novo de Oliviera

Szenenbild: Bertram Strauß

Kostüm: Holger Büscher

Schnitt: Ulrike Leipold

Musik: Ali N. Askin

Redaktion: Götz Bolten

Produktionsfirma: Bavaria Fiction

Produktion: Jan Kruse

Drehbuch: Arne Nolting, Jan Martin Scharf

Regie: Jan Martin Scharf

Quote: 8,78 Mio. Zuschauer (27,6% MA)

EA: 19.09.2021 20:15 Uhr | ARD

Spenden über:

IBAN: DE59 3804 0007 0129 9403 00
BIC: COBADEFFXXX

Kontoinhaber: Rainer Tittelbach