Geiselnahme, Mord, ein gnadenloser Racheplan – Kira Dorn (Nora Tschirner) und Lessing (Christian Ulmen) haben bei ihrem neuen Fall eine harte Nuss zu knacken. Alles beginnt mit einem brutalen Einbruch. Zwei Eindringlinge (Christopher Vantis & Sarah Viktoria Frick) bringen das Ehepaar Schrey, Besitzer einer traditionsreichen Strickwarenfirma, in deren Villa in ihre Gewalt. Wenig später wird die Frau des Hauses tot auf einem Feld in der Nähe eines Ausflugslokals aufgefunden. Tatwaffe: ein Fleischhammer. Gerd Schrey (Jörg Schüttauf) befindet sich noch in der Gewalt der Entführer – und so geht wenig später bei dessen Sohn Maik (Julius Nitschkoff) die Lösegeldforderung ein: zwei Millionen Euro. Der Junior versteht zu handeln: Eine Million könne er auftreiben. Die Erpresser willigen ein. Nicht nur daraus schließen die Kommissare, dass es sich nicht um Profis handeln kann. Ein merkwürdiger „Zufall“, der Abschluss einer Enführungs-und-Lösegeld-Versicherung vor nicht allzu langer Zeit, lenkt den Verdacht auf die Schreys selbst. Hat der Sohn die verhasste Stiefmutter umgebracht oder umbringen lassen oder haben Vater und Sohn gemeinsame Sache gemacht?
In „Der letzte Schrey“, dem zehnten „Tatort“ aus Weimar, hat der Zuschauer zwar gegenüber den Ermittlern immer einen kleinen Wissensvorsprung, aber was den Hintergrund der Geiselnahme angeht, tappt er gleichermaßen im Dunkeln. Sind die Kidnapper die Drahtzieher oder reicht die „intellektuelle Grundausstattung“ der beiden – wie Lessing annimmt – nicht aus für ein solches Verbrechen? Früh allerdings bekommt man den Hinweis, dass das Prinzip „Geld oder Leben!“ für diese Geiselnahme offenbar nicht gilt. An der Rätselstruktur der Handlung ändert sich auch nicht viel, nachdem es nur noch einen Entführer gibt. Und der besteht auf eine Geldübergabe via Sportflugzeug. Maik Schrey kann so ein Ding fliegen – besser gesagt: hat einen Flugschein – und Stich (Thorsten Merten) begleitet ihn beim Abwurf der Million, während Dorn mit Lessings Hilfe versucht, dem Flieger mit dem Auto auf der Spur zu bleiben. Und dann kommt zur Unfähigkeit des überlebenden Entführers noch Pech hinzu. Der Rest ist Dummheit. Und so erreicht „Der letzte Schrey“ ohne letzten Schrei nach 55 Minuten seinen lakonisch-absurden Coen-Brüder-verdächtigen Höhepunkt.
Nach dem enttäuschenden „Die harte Kern“ geht es wieder aufwärts mit Dorn & Lessing alias Nora Tschirner & Christian Ulmen. Der Einstieg, vom Einbruch in die Schrey-Villa bis zum Schlag mit dem Fleischhammer auf den Kopf vom Herrn des Hauses, ist filmisch furios. Die ohnehin schon rasante Montage wird unterlegt mit einem brachialen Schlagwerk-Wirbel, dazu surren die Garne und klackern die Strickmaschinen. Ein Hundewollknäuel namens Ginger kann die Einbrecher nicht aufhalten („Vielleicht kannst du den ja wieder zusammenstricken“). Im Innern des Hauses beruhigt sich zumindest die Filmsprache. Mutti ruft ihren Liebling, Schrey sen. kommt aus der Dusche, die Eindringlinge suchen ihre Opfer – und das Unheil nimmt seinen Lauf. Nachdem eine vermeintlich beliebige Szene das Ermittlerpaar mit ihrem Au-Pair (Marion Bott) zeigt, in der beider „Zwerg“ mal wieder Columbos-Frau-like ins Spiel kommt, geht’s zum Tatort aufs freie Feld. Lessing rekonstruiert die Tötungssituation, die der Zuschauer in einer knalligen Rückblende präsentiert bekommt. Danach wird es launig. „Sie haben doch sicher auch gesehen, was dahinten passiert ist“, fragt Lessing im Ausflugslokal in der Nähe die Gäste. „Das hab‘ ich schon Ihrem Kollegen gesagt: Wir sind die Gruppe vom Blindenverband.“ Und einer ergänzt unter allgemeinem Gelächter: „Na ja, vielleicht war er ja taub.“ Die Sequenz dauert etwa neun Minuten. Es ist eine außergewöhnlich gute Exposition
Weniger aufregend hingegen ist der Plot. Anders als in den komplexen, überbordenden und originell verwobenen Geschichten von „Der Irre Iwan“ (2015), „Der treue Roy“ (2016), der scheidende Schupo“ (2017) oder „Die robuste Roswita“ (2018) ist die Handlung von „Der letzte Schrey“ eher an einem dünnen Faden der Firma Schrey aufgezogen, zwar ein Qualitätsgarn, das fertig gestrickte Stück jedoch „nur“ gehobene Durchschnittsware. Es fehlt die Fülle, die Vielfalt, ein Stück weit das (gut geordnete!) kreative Chaos, das die Episoden zwei bis acht so außergewöhnlich machten. Ging früher mal ein Gag daneben, fiel das kaum auf, ein nächster, besserer folgte im Minutentakt. Auch die Krimi-Konstruktion dieser Jubiläumsepisode ist nicht gerade der Hammer. Die Geiselnahme findet am Ende eine ziemlich komplizierte Erklärung, wie man sie aus den überkonstruierten TV-Krimis der 1990er oder 2000er Jahre kennt. Zwar erinnert Dank der augenzwinkernden Grundtonlage des Films, der passablen Dialoggags, der Überzeichnung der Charaktere und etlicher Situationen, nichts an diese 08/15-Krimis, aber es fehlt diese durcherzählte ironische Genre-Mixtur und stimmige Narration, die sich über die gesamten 90 Minuten legt. Es reicht nicht, wenn Lessing Schiller zitiert („Nicht Fleisch und Blut, das Herz macht uns zu Vätern und Söhnen“), der an den Füßen gefesselte Schrey den Tippelbruder gibt oder plötzlich ein Toter vom Himmel fällt.
„Das ist ‘ne Textilfamilie und keine Schauspiel-Dynastie“, bemerkt Kira Dorn. Und da sagt sie was. Es ist schwierig, psychologisch „ernsthaft“ eine Rolle wie die von Schrey sen. zu spielen, nicht zuletzt auch deshalb, weil die Täterschaft möglichst lange offengehalten werden soll. Selbst Jörg Schüttauf kann also in seiner „merkwürdigen“ Rolle nicht glänzen. Eine glaubwürdigere Performance liefert Julius Nitschkoff ab. Beim bereits erwähnten Höhepunkt hängt die Million an einem Strommast fest – und danach die Handlung erst einmal durch. Auch der filmisch – vor allem lichtdramaturgisch und schlagwerktechnisch – interessante Showdown ist nicht so spannend, wie er hätte sein können. Die neunminütige finale Bedrohungssequenz in einem baufälligen Gebäude leidet darunter, dass einem die drei daran Beteiligten ziemlich gleichgültig sind. Hinzu kommt, dass die Szene „unrealistisch“ lange ausgespielt wird: Action-Momenten folgen fragwürdige Bekenntnisse („Ich hab‘ dich lieb“) – und es dauert ziemlich lange, bis Dorn & Lessing den richtigen Raum in der stillgelegten Klinik gefunden haben, obwohl die Montage andeutet, dass sie schon längst die Schreie und Schüsse gehört haben müssen. Finale Erklärungen in Krimis sind oft zwiespältig; verpackt in eine Action-Szene mit Rache-Potenzial, das ist zumindest gut gedacht, im Drehbuch dann allerdings nicht so gut ausgeführt. Fazit: Trotz guter Inszenierung funktioniert das Miteinander von Witz und Ironie, Mitgefühl und Spannung, die große Kunst einer Krimikomödie und das Markenzeichen des „Tatorts“ aus Weimar, in „Der letzte Schrey“ nicht mehr so gut.