Grazien, Obdachlose, zwei Wohltäter und ein Chef von vorgestern
Drei Obdachlose wollen gesehen haben, dass der Sozialunternehmer Hans-Martin Taubert (Michael Sideris) nächtens von einer Brücke gestoßen wurde. Der wohltätige Mann sei ihr „Kumpel“ und sie, Hansi (Arved Birnbaum), Platte (David Bredin) und Eumel (Alexander Hörbe), seien seine Bodyguards gewesen. Das stimmt offenbar soweit; die Aussagen der drei über die Ereignisse am Abend des Mordes allerdings stehen in deutlichem Gegensatz zu den Aussagen eines anderen Zeugen. Kommissarin Gorniak (Karin Hanczewski) ist das alles zu hochprozentig, um wahr zu sein, Kollegin Sieland (Alwara Höfels) versucht zu vermitteln und Kommissariatsleiter Schnabel (Martin Brambach) holt sich und seinen „beiden besseren Hälften“ Wiebke Lohkamp (Jule Böwe) vom Betrugsdezernat ins Team, die gegen den Toten ermittelte – auf dass „seine Grazien“ den Fall gemeinsam lösen sollen. Sieland und Gorniak sind wenig erfreut, beide haben privat schon genug Ärger, mit einem „Problemfreund“ die eine, mit einem „Problemkind“ die andere, aber diese Tussi kriegen die beiden auch noch geschafft, schneller als den Fall, in den auch noch der geschäftstüchtige Bruder des Toten (Urs Jucker) und ein weiterer „Wohltäter“ Dresdens (Stephan Baumecker) verwickelt sind.
Foto: MDR / Gordon Mühle
Der Weg (ohne Thrill) ist das Ziel: die Verführung des Zuschauers
Nach dem volkstümlichen Schlager-Milieu haben die Autoren Ralf Husmann und Mika Kallwass die Neuen vom „Tatort“ Dresden abermals in eine Parallelwelt hineingeschrieben, allerdings in eine weniger gut gelaunte und vollkommen unglamouröse. Haben die beiden in „Auf einen Schlag“ den Krimi nicht der Satire geopfert, so gelingt es ihnen nun auch in „Der König der Gosse“, den Whodunit nicht gutmenschelnd im Sozialdrama zu ersticken. Am bemerkenswertesten aber ist es, dass die zwei einen an sich nicht sonderlich spektakulären Fall (Dresden eben!) mit mit einer von fein nuancierter Ironie durchzogenen Erzählweise und mit drei Kommissaren, denen man als Zuschauer von vornherein aus sehr unterschiedlichen Gründen (Harmonie! Erotik! Humor!) zugeneigt ist, überraschend attraktiv machen. Hier regiert weder die krimitypische Spannung, noch bekommen wir es mit den in TV-Krimis immer beliebteren Thriller-Momenten zu tun. Wer der Täter ist, wollen wir zwar wissen; aber wie die Autoren und Regisseur Dror Zahavi haben wir keine Eile und genießen bis zur Auflösung jeden einzelnen Moment, jede Szene, auch wenn sie nichts mit dem Genre oder dem Fall zu tun hat. Daraus entsteht eine besondere Art von Spannung, die weniger aus dem Krimi als aus dem Erzählen selbst resultiert und in der Verführung des Zuschauers gipfelt.
Aussage gegen Aussage: gelogene oder wahrheitsgemäße Rückblende?
Der besondere Kniff, den Husmann & Co in „Der König der Gosse“ höchst wirkungsvoll verwenden, ist das ständige Wechselspiel aus wahrheitsgemäßen und gelogenen Rückblenden. „Dabei kommt es zu unterschiedlichen und oftmals konträren Aussagen“, so Regisseur Zahavi, „das schafft eine besondere Spannung und lässt den Zuschauer bis zum Schluss im Dunkeln tappen.“ Das ist das eine. Das andere, was aus diesem Prinzip in Kombination mit dem eigenwilligen Figurenpersonal entsteht, ist eine Art Schmunzeldauerschleife – und man muss sich fragen, wie wohl die Kommissare aus ihr, die sich für sie alles andere als spaßig anfühlt, herauskommen werden. Und auch wenn sich die Autoren wenig um das scheren, was sich gemeinhin Realitätsnähe nennt, so spiegelt sich doch in diesem Prinzip durchaus Kripo-Alltag: Aussage gegen Aussage – das ist in der realen Ermittlungsarbeit eine der häufigsten Hindernisse für die rasche Aufklärung eines Mordfalls. Ähnlich stimmig ist auch der Grund, weshalb die Obdachlosen nur ungern mit der Polizei kooperieren. Ihre Erfahrung hat gezeigt und sie tut es noch immer (die drei sind dabei, als im Flur des Kommissariats der Diebstahl von Gorniaks Sohnemann kollegial unter den Tisch gekehrt wird), dass „die da oben“ mauscheln und sie immer die Dummen bleiben werden. Diese Überzeugung behindert nicht nur die Aufklärung des Falls, sie birgt auch eine Gefahr: Womöglich wollen die drei das Recht selbst in die Hand nehmen und den Mord an ihrem „Schlipsträger“-Freund“ rächen.
Foto: MDR / Gordon Mühle
Die leise Ironie beim Ermitteln – und etwas Loriot ist auch dabei!
Herzstück auch vom zweiten „Tatort“ aus Dresden ist das Ermittler-Trio: zwei Frauen, schlagfertig bis schnippig, bodenständig, mal vorschnell, mal vernünftig, vom Typen-Entwurf her gegensätzlich und doch eine Einheit, und der für die beiden sehr gewöhnungsbedürftige Chef, der den frauenlosen Zeiten auf dem Kommissariat hinterher weint. Außer „Wiebke“ natürlich, mit der hatte Schnabel offensichtlich vor Jahren mal was Romantisches laufen. Diese Vier und ihr diffiziles Beziehungsnetz untereinander sind der emotionale Dreh- und Angelpunkt des Films. Alle vier sind Sympathieträger auf sehr unterschiedliche Weise, vor allem weil sie als Menschen gezeigt werden – und Menschen machen nicht nur Fehler, sie haben auch Fehler. Der Ober-Chauvi Schnabel ist wie er ist („Schnabel Tasse“ hat er sich auf seinen Kaffeepott geschrieben) – vor allem eine arme Sau. „Schnabel ist auch nur ein Mensch“, drückt es sein Darsteller Martin Brambach etwas freundlicher aus, „und wieso sollte er denn keine Sehnsüchte und Bedürfnisse haben“. Brambach spielt das wieder glänzend, mit Schmackes, aber er übertreibt es nicht. Alwara Höfels’ Sieland bleibt die Vernünftige, die sich selbst zurücknimmt und dabei erkennen muss, dass sie mit dieser Haltung im Beruf erfolgreich ist, im Privatleben aber eher weniger. Also holt sie sich eines Abends die obdachlosen Männer in ihre Pärchenwohnung und hat mehr Spaß mit den Dreien als mit ihrem Langweilerfreund. Karin Hanczewski muss ihr weiblich-erotisches Potenzial in ihrer Rolle als alleinerziehende Mutter noch mehr zügeln. Und Jule Böwe spielt das Objekt von Schnabels Begehren mit einem Hauch von Evelyn Hamann zu Loriots besten Zeiten (da lässt sich Brambach auch nicht lang bitten): vielleicht nicht die Hellste, aber grundehrlich und sehr genau. Als sich Sieland & Gorniak über „die Verwendungsmöglichkeiten“ von Schnabels Schwanz austauschen, erhebt sich die gerade noch Unsichtbare, um klarzustellen: „Wir haben gestern nur gegessen, der Micha und ich.“ Solche Momente kommen unverhofft und werden beiläufig ins Ermitteln eingebaut. Das schon erwähnte Abendessen mit Hansi, Platte & Eumel bei Henni (allein die Namen zeigen, dass sich da vier gefunden haben) sorgt für gute Laune, aber auch für Klarheit, was die Motive der Obdachlosen angeht. Die enge Verzahnung von Krimi und komischen Momenten ist die besondere Qualität des Films. Zum Wegschmeißen komisch ist eine Befragung einer älteren Dame und Hundebesitzerin vor dem Fenster ihrer Wohnung, ihr Hündchen beschützend im Arm: Ausgerechnet der Mann aus der Mucki-Bude habe ihren Mucki bedroht. Der Witz, der auch Tragik in sich birgt, resultiert aus der völligen absoluten Vermenschlichung des Hundes und der Ernsthaftigkeit der Befragung. Erheiternd ist auch ein Auftritt des Gerichtsmediziners. Wo es nur möglich ist: ein amüsanter Schnörkel!
Foto: MDR / Gordon Mühle
In diesem „Tatort“ spielen alle Theater und lügen um die Wette
„Der König der Gosse“ zeigt, wie Umwege im Krimi, normalerweise Gift für die Spannung, durchaus Spaß machen können und so etwas wie – nennen wir es – gesteigerte Gespanntheit beim Zuschauer zu erzeugen in der Lage sind. Umwege können entstehen, weil Menschen nicht die Wahrheit sagen. Dieses Motiv, das mit den gelogenen Rückblenden zum Stil-Prinzip des Films erhoben wird, benutzen die Autoren auch in anderen Situationen. „Das hat echt gut geklappt mit den beiden“, sagt die Gast-Kommissarin zu Schnabel. Eine glatte Lüge. Ein Meister im elegant die Unwahrheit sagen ist auch der Bruder des Toten. Und weil der Zuschauer in diesen Fällen weiß, dass es Lügen sind, kann er sie als ein Witz mit tragischer Note goutieren. Und weil der erste Satz von Wiebke eine Lüge ist, weiß man, was man von ihrem nachgeschobenen Satz zu halten hat: „Ich sag’ das ja immer, wenn’s in den entscheidenden Positionen mehr Frauen gäbe, wäre die Welt deutlich harmonischer“. Zu diesem Um-die-Wette-Lügen könnte man den Satz „Alle spielen Theater“ assoziieren. Da passt es nicht schlecht, dass in diesem „Tatort“ auch noch Theater gespielt wird. Passend zum „Berber“-Thema gibt es die „Bettleroper“ als imageträchtiges Sozialprojekt mit echten Obdachlosen als Chor. Und dass die Auflösung dieses Krimi-Lügenspiels auf der Theaterbühne stattfindet ist konsequent und entspricht dem stimmigen Gesamtkonzept: Hinter der Bescheidenheit von Fall, Milieu & Inszenierung und hinter der Bodenständigkeit der Charaktere versteckt sich ein echtes Krimi(komödien)-Kleinod.