Kommissar Steier schmeißt hin. Nachdem seine Zeugenaussage in einem Tötungsdelikt vom Verteidiger vor Gericht zerlegt und seine Alkoholsucht öffentlich gemacht wurde, weiß er sich keinen anderen Ausweg. Entzug? Nein danke! Was bleibt ist eine Riesenwut – auf diese Scheißwelt, auf die eigene Unzulänglichkeit und auf jenen Nico, der ihn nach dem Freispruch verhöhnt. In seiner Verzweiflung heftet sich Steier in seinen letzten Arbeitsstunden an dessen Fersen – die Dienstwaffe griffbereit. Doch Steier drückt nicht ab. Lieber will der Beinahe-Ruheständler Nico bei seinem nächsten Ding auf frischer Tat ertappen. Das lässt auch nicht lange auf sich warten. Ein Einbruch am Stadtrand. Nachts in einem ungemütlichen Wohnhaus treffen die beiden wieder aufeinander. Mit von der Partie: Nicos jüngerer Bruder Robin, dessen Junkie-Freundin und Poller, ein Ex-Polizist, der rein gar nichts mehr zu verlieren hat.
Joachim Król geht mit einem Paukenschlag. Sein „Tatort“-Ausstand „Das Haus am Ende der Straße“ ist ein Film, den man nicht so schnell vergessen wird. Erol Yesilkaya, Michael Proehl und Sebastian Marka hatten dafür gute Voraussetzungen: Mit einem alkoholabhängigen, narzisstisch gekränkten Borderline-Kommissar, der in wenigen Tagen seine Dienstmarke abgeben wird, lassen sich Dinge erzählen, die man in Ermittlerkimis wie dem „Tatort“ eher selten zu sehen bekommt. Jenseits aller Routine wird Steier in die freie Wildbahn des Verbrechens entlassen. Fast wird er zunächst selbst zum Mörder, dann befindet er sich in der gleichen Situation wie sein Beinahe-Opfer. Gemeinsam sitzen sie in der Falle. Ihr Peiniger ist ein vom Hass zerfressener Ex-Bulle, der seinem Leben eben noch ein Ende setzen wollte, sich dann aber entschließt, ein Exempel zu statuieren an jenem jugendlichen Einbrechertrio. Einen von ihnen „adoptiert“ er als Ersatzsohn, dem er helfen will, aus dem Milieu herauszukommen; den anderen, Steiers speziellen Freund, und die Junkie-Braut (Pollers Sohn ist am goldenen Schuss gestorben) würde er am liebsten erschießen. Aber erst spielt er ein wenig mit ihnen.
„Wenn du kein Polizist mehr bist – was bleibt dir dann noch?“, fragt Kollege Seidel Steier nach dessen schwerwiegendem Entschluss. Dieser variiert das Plakat „Sei dein eigener Held – trink Milch!“, das (nicht nur) in dieser Szene im Hintergrund zu sehen ist, zu „Ich will wieder Held in meinem Film sein.“ Bis dahin dauert es allerdings noch. Erst einmal schlagen zwei Herzen in des Anti-Helden Brust: eines, das sich nach Rache sehnt, und eines, das nach wie vor für und auf Gerechtigkeit pocht. Und dann ist da dieser Poller, der dem Kommissar den Spiegel vorhält, ihm einen Vorgeschmack davon gibt, was passieren könnte, wenn Steier nicht die Kurve kriegt und sich moralisch nicht klar positioniert. Auch dieser Poller träumt vom „eigenen Film“; aber nur kurze Zeit. Armin Rohde spielt diese Rolle mit einer ebenso tief tragischen Gebrochenheit wie Joachim Król, der in „Das Haus am Ende der Straße“ seinen – gefühlt – stärksten HR-„Tatort“-Auftritt hinlegt, seinen vielschichtigen Problem-Kommissar.
Nach dem aufsehenerregenden Tukur-„Tatort – Im Schmerz geboren“ ist nun dieses Krimi-Kammerspiel, das fast 60 Minuten lang in jenem Titel gebenden und ziemlich furchterregenden Haus am Ende der Straße spielt, das filmästhetische Gegenstück zu jenem opernhaft postmodernen Arthaus-Spektakel. Und wieder hat der Hessische Rundfunk zugeschlagen. Zwar cool im Kinobreitwandformat gedreht, ist der Film von Sebastian Marka ein Musterbeispiel für eine Dramaturgie, die auf engstem Raum und mit begrenztem Personal ein Höchstmaß an Spannung und Dramatik zu erzeugen weiß. Der Schauplatz ruft Erinnerungen wach an andere filmische Ein-Haus-Situationen oder Schreckenshaus-Movies wie „Psycho“, „Halloween“ oder „Panic Room“ und die Bildsprache erinnert an die schwarz-weißen B-Pictures jenes Genres; nicht ganz zufällig läuft auf einem Monitor der Abspann von „The Texas Chainsaw Massacre – Blutgericht in Texas“, einem Splatter- und Slasher-Kultfilm der 70er Jahre. So wie der Sinn aus dem Leben – zumindest jenes Poller – geschwunden ist, so sind die Farben aus den Bildern herausgewaschen. Geradlinig, bildstark und stilbewusst zugleich ist bereits die erste halbe Stunde des Films gestaltet. Ganz im Sinne eines Realismus’, der sich auf die Dinge und die Blicke konzentriert. Eine Straße, ein Auto, eine Brücke, eine Pistole, ein vorbeirasender Zug – die Geschichte erzählt sich über Zeichen. Es wird wenig geredet, in einigen Passagen überhaupt nicht. Die Tonspur ist dafür umso aufregender. Sounddesign und Score sind – den visuellen Vorbildern zum Trotz – ganz großes Kino
Vor lauter Spannung, Psychothriller-Ambiente und filmsprachlicher Brillanz sollte man nicht übersehen, dass dieser „Tatort“, den seine Macher so eindrucksvoll vom Realitätsdruck des deutschen Ermittlerkrimis entheben, durchaus auch einen moralischen Diskurs führt. Erzählt wird von der Möglichkeit eines desillusionierten Mannes, Rot zu sehen. Vielleicht mag sich manch ein Zuschauer auch bestätigt fühlen vom Credo der Rohde-Figur (die die vier ständig gegeneinander ausspielt) „Einmal Ratte, immer Ratte“, aber der Film macht vor allem die Widersprüchlichkeit (oder subjektiv: Aussichtslosigkeit) der Polizeiarbeit deutlich. Diese Gratwanderung der Emotionen – Króls Steier macht sie sinnlich fassbar. Damit schließt „Das Haus am Ende der Straße“ an andere „Tatort“-Episoden aus Frankfurt an, von „Das Böse“ über „Weil sie böse sind“ bis „Es ist böse“, in denen dem Gen des Bösen hinterher ermittelt wurde. Mit den tumben Selbstjustiz-Fantasien des amerikanischen 70er-Jahre-Kinos haben diese Filme & der neue HR-„Tatort“ absolut nichts gemeinsam. (Text-Stand: 28.1.2015)