Tatort – Blut

Mommsen, Stangenberg, Postel, Obonya, Philip Koch. Kommissar als Vampir(jäger)

Foto: RB / Christine Schröder
Foto Rainer Tittelbach

Es gibt keine Vampire, aber es gibt Menschen, die an Vampire glauben. Mit dieser Prämisse arbeitet Autor-Regisseur Philip Koch in seinem „Tatort – Blut“. Pünktlich zu Halloween mischt nun zum zweiten Mal ein ARD-Sonntagskrimi das Genre in Richtung Horrorfilm auf. Nicht das Übernatürliche triumphiert, sondern die angstbesetzten Vorstellungen, die sich Menschen von den Blutsaugern machen. Die Schockszenen entbehren jeden Budenzaubers. Und das Wesen, das zur Bestie werden kann, trägt auch menschliche Züge. Dass man als Zuschauer mehr als nur einen Blutstropfen Mitleid für das Monster übrig hat, liegt vor allem an der einzigartigen Lilith Stangenberg, die mal wieder so richtig „wild“ sein darf. Dieser „Tatort“ ist ein sehr gelungener, mit ästhetischer Ironie unterfütteter Genre-Mix: ein morbides Drama, ein unheimlicher, verstörender Krimi, ein Horrorfilm über die Einsamkeit. Ein Film über das Leben im Dunkeln. Ein filmischer Alptraum. Ein „Tatort“, der den Zuschauer herausfordert, indem er lieb gewonnene Sehgewohnheiten nicht bedient. Eine Schlechte-Nacht-Geschichte, deren Bilder und Antagonistin man so schnell nicht vergessen wird.

„Ich glaub nicht an Monster, die sich in Fledermäuse verwandeln.“ Kommissarin Lürsen (Sabine Postel) wähnt sich im falschen Film. Einer jungen Frau wurden nachts im Park drei Liter Blut abgezapft; ihr Körper sieht aus, als ob ein wildes Tier sie regelrecht gerissen hätte, der Hals ist eine einzige blutige Wunde. Eine Freundin der Toten berichtet von einer seltsamen Frau, die dem Opfer nachgestellt und sich als Vampir ausgegeben habe. Doch Lürsen bleibt dabei: „Wir suchen einen Menschen aus Fleisch und Blut.“ Stedefreund (Oliver Mommsen) ist eigentlich ihrer Meinung, aber er lässt sich von dem Mythos der blutsaugenden Untoten in seinen Bann ziehen. Dieser panische Blick, diese Urangst einer weiteren Freundin der Toten (Lilly Menke), die in der Mordnacht ebenfalls von dem „Monster“ verfolgt wurde, gibt dem Kommissar zu denken. Das ist keine normale Killerin. Stedefreund soll recht behalten. Es wird noch mehr Blut fließen – und auch er hat bald eine Bisswunde am Hals. Er hat sie gesehen, diese hagere Frau (Lilith Stangenberg), die sich im Schutz der Nacht ihre Opfer sucht und sich offenbar tatsächlich von Blut ernährt. Im Fieberwahn spürt Stedefreund eine magische Verbundenheit mit der Mörderin – und er ahnt, dass sie nicht von ihm lassen wird. Währenddessen hat Lürsen ein möglicherweise früheres Opfer, das jedoch nicht zu Tode kam, aufgespürt. Was sie allerdings nicht weiß: Es ist der todkranke Vater (Cornelius Obonya) jener mittlerweile als Nora Harding identifizierten Frau. Beide leben in einer gestörten Beziehung.

Tatort – BlutFoto: RB / Christine Schröder
Der dunklen Wahrheit auf der Spur: Lürsen (Sabine Postel) und Stedefreund (Oliver Mommsen), der zunehmend abdriftet in die Mythologie des Vampirismus und auch noch selber gebissen wird. Was hat die „irre“ Blutsaugerin mit dem Kommissar vor?

Dem gesunden Menschenverstand zum Trotz – Kommissar Stedefreund bekommt den Vampirmythos nicht aus dem Kopf. In seinem Wahn kann er sein Spiegelbild nicht mehr sehen, erträgt kein Sonnenlicht, weiß die Schönheit eines jungen Halses zu schätzen und sieht sich schließlich mit einem abgebrochenen Besenstiel „seiner Meisterin“ gegenüber. Es gibt keine Vampire, aber es gibt Menschen, die an Vampire glauben. Mit dieser Prämisse arbeitet Autor-Regisseur Philip Koch in seinem „Tatort – Blut“. Pünktlich zu Halloween mischt nun zum zweiten Mal ein ARD-Sonntagskrimi das Genre in Richtung Horrorfilm auf. Nicht das Übernatürliche triumphiert, sondern die angstbesetzten Vorstellungen, die sich Menschen von den Blutsaugern machen. Ein Kommissar im Zwischenreich, gefühlt Vampir, im Kopf  Vampirjäger. Man sieht einen Menschen Blut saugen, Blut trinken, Blut kotzen. Man weiß mehr als die Ermittler, und doch kennt man des Pudels Kern nicht. Man fragt sich während der 90 Minuten immer wieder, ob Koch es schaffen wird, aus dieser Geschichte herauszukommen, ohne Logik und Realitätsempfinden grundlegend zu verletzen. Gewiss wird man als Zuschauer nach möglichen Erklärungen suchen, dies aber wahrscheinlich irgendwann aufgeben und – sofern man dieser Genre-Mixtur von Anfang an nicht mit Vorbehalten und Vor-Urteilen begegnet – sich dieser ungewöhnlichen Krimierzählung hingeben. Und am Ende wird man staunen, wie angenehm unprätentiös und ohne allzu viele Erklärungen (das musste vor 50 Jahren in „Psycho“ noch ganz anders gelöst werden) Koch das Finale gelingt. Der Film bleibt bei allem spielerischen Umgang mit den Codes des Gruselfilms ernsthaft und gibt noch weniger als der Vorjahres-Horror-„Tatort“ aus Frankfurt „Fürchte dich“ Anlass, das Scenario lächerlich zu finden (beziehungsweise zu machen). Die Schockszenen entbehren jeden Budenzaubers. Und das Wesen, das zur Bestie werden kann, trägt auch menschliche Züge, es entwickelt eine Verletzlichkeit und Zartheit, die einem die Antagonistin emotional sogar näherbringt als beispielsweise die bodenständige, alles Irrationale ablehnende Kommissarin.

Tatort – BlutFoto: RB / Christine Schröder
Anna Welter (Lilly Menke) hat das Unbeschreibliche gesehen. Sie steht unter Schock. Stedefreund (Oliver Mommsen) fühlt sich ihr auf eine merkwürdige Art verbunden.

Wer dem herkömmlichen Whodunit-Krimi nachweint, dem gibt Philip Koch („Tatort – Im toten Winkel“) zu Beginn gleich eine Steilvorlage: „kranker Scheiß, aber sowas von“, mault eines der Girlies beim Mädels-Abend über den angeblich schlecht gemachten Horrorfilm, der in der Programmzeitschrift sogar „Film des Tages“ ist. Das könnte man als Ironie verstehen. Wer heute einen „Tatort“ macht, weiß um die am Altbewährten hängenden Motzkis und kennt die Meinungsmache im Netz. Ansonsten punktet „Blut“ mit ästhetischer Ironie, indem der Jungfilmer mit der Sprache des Genres spielt, ohne dabei allzu deutlich Filmklassiker zu zitieren. Immer wieder lässt er das Dunkel der Nacht und das Sounddesign eindrucksvoll Unheil ankündigen. Koch zieht – soweit dies zur Primetime möglich ist – alle Register: Enge Einstellungen erhöhen die Spannung; Schmatz- und Schlürf-Geräusche beleben den Ekel-Faktor und kitzeln die Phantasie; kräftige Schockmomente entpuppen sich als Alptraum, und der „ganz besondere Saft“ zieht sich – gelegentlich auch bildfüllend – als roter Faden durch die Vampirismus-Mär aus Bremen. Die Mythologie der blutigen Beißer findet aber nicht nur ikonografisch oder vordergründig narrativ Eingang in den Film, sie bietet auch eine direkte Verbindung zum Subtext der Geschichte: der Biss als Liebesbeweis, der Gebissene als Objekt des Begehrens („freundschaftlich rangeschmissen“), die Einsamkeit der Untoten – all das schwingt mit in einer Geschichte, die sinnlich einen Bogen spannt zwischen Genre (der Vampirkuss gebiert einen weiteren Vampir), menschlicher Psyche (Essstörung, verzerrte Realitätswahrnehmung, Vereinsamung), kranker Interaktion (Stichwort: Ko-Abhängigkeit) und die dadurch mehr als nur einen Blutstropfen Mitleid für das „Monstrum“ übrig hat.

Die Empathie-Bereitschaft liegt nicht zuletzt auch an der großartigen Besetzung mit der einzigartigen Lilith Stangenberg (und dem österreichischen Ausnahmemimen Cornelius Obonya als Katalysator für die menschlichen Züge des Monsters). Ihre traurige Körperlichkeit, ihr bleicher Teint, ihr glattes, strähniges Haar, ihr mal böser, mal liebevoller Blick, ihre sprunghafte Diktion machen aus jener Nora Harding ein verwirrtes, verlorenes Wesen. Schon einmal faszinierte die 30jährige Schauspielerin in einer Rolle zwischen Mensch und Tier: In „Wild“ (2016) von Nicolette Krebitz war sie die Frau, die mit dem Wolf lebt und sich mit ihrer „Tierwerdung“ von den Zwängen der Zivilisation befreit. Aus der Geschichte von „Blut“ kann es indes kein Entkommen geben. Dieser „Tatort“ ist ein morbides Drama, ein unheimlicher, verstörender Krimi, ein Horrorfilm über die Einsamkeit. Ein Film über das Leben im Dunkeln. Ein filmischer Alptraum. Ein „Tatort“, der den Fernsehzuschauer herausfordert, indem er lieb gewonnene Sehgewohnheiten nicht bedient. Eine Schlechte-Nacht-Geschichte, deren Bilder und wilde Antagonistin man so schnell nicht vergessen wird.

Tatort – BlutFoto: RB / Christine Schröder
Eine morbide Stimmung liegt nicht nur über den Bildern in der Harding-Wohnung. Zwischen Leben und Tod, zwischen lebendig und untot, zwischen Mensch und eingebildetem Vampirwesen: Mutationen sind das Herzstück dieses auch visuell eindrucksvollen Krimis, der gleichsam Horrorfilm und großer Schauspielerfilm ist. Die Antagonisten (ganz große Klasse: Lilith Stangenberg & Cornelius Obonya) sind einmal mehr spannender als die Protagonisten. Allein der faustische Kommmissar kann mithalten.

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RB

Mit Oliver Mommsen, Lilith Stangenberg, Sabine Postel, Cornelius Obonya, Lilly Menke, Camilla Renschke, Matthias Brenner, Lena Kalisch, Stephan Bissmeier, Helen Barke

Kamera: Jonas Schmager

Szenenbild: Petra Albert

Kostüm: Astrid Pia Karras

Schnitt: Friederike Weymar

Musik: Michael Kadelbach

Redaktion: Annette Strelow

Produktionsfirma: X Filme Creative Pool

Produktion: Michael Polle

Drehbuch: Philip Koch – Mitarbeit: Holger Joos

Regie: Philip Koch

Quote: 8,30 Mio. Zuschauer (23% MA)

EA: 28.10.2018 20:15 Uhr | ARD

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