Wir sehen, dass wir nichts sehen. Im Vorspann des neuen „Tatort“ aus Mainz bewegt sich der Zuschauer mit der Kamera (Cornelia Janssen) durch ein schwarzes Sichtfeld, in dem nur vereinzelt verzerrte Lichtpunkte auftauchen. Jura-Studentin Rosa Münch (Henriette Nagel) bahnt sich ihren Weg zur Tankstelle. Zwei Bier zum Feierabend will sie kaufen. Die kleine Freiheit im alltäglichen Einerlei eines Studentenlebens, das sich außer in der Bibliothek nur unter dem Dach der Eltern abspielt. Mit einem Prozent Sehkraft ist Rosa auf ihre Eltern, ihr Gehör und ihren Geruchssinn angewiesen. Was sie an der Tankstelle hört, lässt sie versteinern. Im Verkaufsraum fällt ein tödlicher Schuss, zwei Menschen streiten. Was sie riecht, gefällt ihr. Mit den flüchtenden Tätern, die sie am Leben lassen, zieht ein Hauch von Vanille an ihr vorbei. Ihr Bier trinkt Rosa wenig später mit der Kommissarin. Berlinger und Rascher sind überrascht. Statt einer verängstigten Frau sitzt ihnen auf der Kante des Krankenwagens eine junge Ohrenzeugin gegenüber, die den Tathergang präziser und gelassener wiedergibt, als sie das sonst von Zeugen gewohnt sind. Auch der Zuschauer sieht von jetzt an wieder klar. Die Kamera protokolliert das Erstaunen in Berlingers und die Skepsis in Raschers Gesicht.
Foto: SWR / Bettina Müller
Im Verlauf des Falls wird Rosa dem verführerischen Geruch des Abenteuers wieder begegnen. Er gehört zu ihrer Kommilitonin Sophia Hansen (Anica Happich). Einer Mia Wallace aus „Pulp Fiction“ gleich, lebt die junge Frau an der Seite ihres lässig-brutalen Liebhabers (Jan Bülow) in einer modischen Penthouse-Wohnung. Geld also kein Problem. Eher der Überdruss am normalen Leben. Umso reizvoller erscheint es Sophia, die unschuldige Zeugin um den Finger zu wickeln. Rosa ist leichte Beute. Sie ist genervt von der Fürsorge ihrer Eltern, zweier hessisch babbelnder Menschen, die sie wie gutmeinende Gespenster im holzvertäfelten Eigenheim belauern. Genervt ist Rosa vor allem vom Vater, der sie auch gern mal auf ihren Wegen durch die Stadt verfolgt. In ihrer Verzweiflung vergibt die junge Frau der heißkalten Sophia alles. Ihre Motive mögen andere sein, aber ihre Lust an der Gefahr ist groß. Auf dem Rücksitz von Sophias Geländemaschine fährt Rosa ihrem drögen Schicksal davon. Während sich so zwischen drei jungen Menschen eine unheilvolle Allianz anbahnt, kommen die Kommissare den Tätern, die aus Langeweile einen Mord in Kauf genommen haben, durch eine Abfrage des Tatfahrzeugs auf die Spur. Gleichermaßen entsetzt sitzen sie wenig später den Dreien in Einzelverhören gegenüber. Berlinger beharrlich, Rascher zunehmend angewidert. Wenn sie sagt: „Wir arbeiten hier auch mit Hoffnung“ kann er nur lachen.
Ihren ersten Fall lösten Makatsch und Blomberg Ostern 2018. Zwei Jahre nach Makatschs glücklosem Einstand, dem „Tatort – Fünf Minuten Himmel“ (noch in Freiburg) plagte sich auch „Tatort – Zeit der Frösche“ (Regie: Markus Imboden) ein wenig zu sehr mit Berlingers Problemen als alleinerziehender Mutter herum. Dafür überzeugte er durch ihren neuen, durch eine frühere Ermittlung traumatisierten Kollegen. Sebastian Blomberg spielte diesen Rascher mit der ihm eigentümlichen Mischung: ungelenk, mit feiner Ironie, schlau – eine Figur, die neugierig macht. Leider wird diese Neugier im aktuellen Fall enttäuscht. Während Blomberg dem eigensinnigen Rascher nicht viel Neues hinzuzufügen hat, konzentriert sich der „Tatort – Blind Date“ wieder auf die seelische Wunde in Berlingers Leben. Die Parallelhandlung um die Wiederkehr ihres Ex (Alan Burgon), Vater der gemeinsamen Tochter Greta, schafft zwar neue Voraussetzungen für kommende Einsätze, nutzt dem aktuellen Fall aber wenig. Man mag beginnen nach der Klammer zwischen den aktuellen Ermittlungen und Berlingers persönlichem „Versagen“ zu suchen. Aber: Was man suchen muss, das funktioniert eben nicht. Neben dieser Schwäche in der Erzählung hätte dem dritten Einsatz mehr von der soliden Polizeiarbeit des Teams Makatsch/Blomberg gutgestanden. Der Hauch von Melancholie, der beide umgibt, wird in einem kurzen Dialog untereinander nur angerissen. Schade.
Foto: SWR / Bettina Müller
Auch mehr Wagnis in seiner Visualität hätte „Blind Date“ gutgetan. Zwar kehrt Regisseurin Ute Wieland punktuell zu Rosas nahezu lichtloser Perspektive zurück, kitzelt dabei aber nie mehr als ein Schaudern im Zuschauer heraus. Das Vordringen in die Welt einer Nicht-Sehenden bietet mehr Möglichkeiten. Auch auf akustischer Ebene. Beispiellos gut – und ganz ohne Blindheit im Spiel – bewies das Alexander Adolph in dem München-Fall „Tatort – Der tiefe Schlaf“ (2012). In Mainz hat man dramaturgisch da nicht alles rausgeholt. So bleibt dieser „Tatort“ am Ende eher als Aufreger über eine Mutter, die ihr Kind nicht genug lieben kann im Gedächtnis, und weniger als ein spannender Kriminalfall. (Text-Stand: 14.9.2021)