Tatort – Angriff auf Wache 08

Tukur, Peter Kurth, Christina Große, Stuber. Hier bin ich Fan, hier darf ich’s sein!

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Foto Rainer Tittelbach

Der achte „Tatort“ mit Ulrich Tukur, „Angriff auf Wache 08“ (ARD / Hessischer Rundfunk), ist ein Remake des Action-Thriller-Klassikers „Assault – Anschlag bei Nacht“ (1976) von John Carpenter. Thomas Stuber legt mit diesem rasanten Asphaltwestern eine breite Referenzspur durch die Filmgeschichte, denn das legendäre B-Picture verstand sich als Reminiszenz an Hawks’ „Rio Bravo“ mit John Wayne, diese kaputte Spätwesternvariante von „Zwölf Uhr mittags“, und an Romeros „Die Nacht der lebenden Toten“, und zog bereits 2005 ein US-Remake nach sich. Ob man als Zuschauer das Original kennt und von den Bezügen weiß oder nicht – dieser „Tatort“ ist ein faszinierender Genrefilm, der zu recht auf political correctness & Botschaften pfeift und stattdessen lieber mit coolen Kinogesten, ästhetischer Ironie und mit Wehmut an Zeiten erinnert, in denen noch nicht mit Handy und Internet die klassische Spannungsdramaturgie kaputt gemacht wurde. Und „Nummer 5 lebt“!

Murot, ein Kumpel, ein Killer, eine Polizistin in einer einsamen Wache unter Beschuss
Irgendwo am Rande von Offenbach. In einem ehemaligen Polizeirevier herrscht Großbetrieb. Auf dieser Wache, die kurz vor ihrer endgültigen Abwicklung derzeit noch als Polizeimuseum Verwendung findet, arbeiten nur zwei Beamte: die Verkehrspolizistin Cynthia Roth (Christina Große) und Walter Brenner (Peter Kurth), der schon bessere Zeiten gesehen hat. Zunächst taucht unverhofft Felix Murot (Ulrich Tukur) in Feierlaune und mit einem guten Schluck bei seinem alten Kumpel aus BKA-Tagen auf. Wenig später muss ein Gefangenentransport wegen einer Reifenpanne in jener Wache 08 einen Zwischenstopp einlegen – mit einer explosiven Fracht an Bord: Kermann (Thomas Schmauser), eine Art deutscher Hannibal Lecter. Und dann flüchtet sich auch noch ein Teenager in die Wache. Sekunden später eröffnen unbekannte Scharfschützen mit paramilitärischem Geschütz das Feuer auf den alles andere als wehrhaften Flachbau. Hat diese Aktion, die sich immer mehr zu einer Belagerung auswächst, etwas zu tun mit einem Polizeieinsatz in der letzten Nacht, bei der das SEK, statt ein Waffenlager auszunehmen, drei Verdächtige brutal niedermetzelte? Wächter (Barbara Philipp) wollte morgens, dass sich Murot den Tatort anschaut, doch der wimmelte sie ab. Von seinem Ausflug nach Offenbach weiß sie nichts. Und er weiß nicht, was Jenny (Paula Hartmann), der jungen Frau, die in der Wache einen Zufluchtsort gefunden hat, widerfahren ist. Nachdem junge Männer grundlos ihren Vater auf offener Straße erschossen haben, hat auch sie getötet.

Tatort – Angriff auf Wache 08Foto: HR / Bettina Müller
Leichen pflastern mal wieder den Weg des BKA-Beamten. Felix Murot (Ulrich Tukur) und der tote Schließer Manfred (Sascha Nathan)

Referenzspur durch die Filmgeschichte: „Rio Bravo“, Romero, „Assault“, „Das Ende“
Die Fernsehfilm-Redaktion des Hessischen Rundfunks hat bei ihren „Tatort“-Ablegern schon immer ein Faible fürs Genrekino bewiesen. Mal setzte man auf Hitchcock-Highsmith-Touch („Weil sie böse sind“), mal auf Western-Ambiente („Neuland“), mal auf Geisterhaus-Grusel mit postmodernem Budenzauber („Fürchte dich“). Meisterlich verkuppelte man Sergio Leone mit Shakespeare („Im Schmerz geboren“), und zuletzt steckte Murot Murmeltier-mäßig in der Zeitschleife fest. War dieser, der siebte „Tatort“ mit Ulrich Tukur, ein grotesk surreales, intellektuelles Vergnügen, geht es in „Angriff auf Wache 08“ nun bodenständiger zu. Die für die Belagerten absurde Bedrohung entpuppt sich nicht etwa als Traum, die Todesschüsse sind real, und doch ist dieser TV-Thriller alles andere als ein realitätsnaher Sonntagskrimi. Der Film von Thomas Stuber, der nach seinen preisgekrönten Kinofilmen „Herbert“ und „In den Gängen“ mit diesem „Tatort“ Neuland betritt, ist ein Remake des amerikanischen Action-Thriller-Klassikers „Assault – Anschlag bei Nacht“ (1976) von John Carpenter. Mit diesem Film wird eine besonders breite Referenzspur durch die Filmgeschichte gelegt, denn das legendäre B-Picture (Budget: 100.000 Dollar) versteht sich als Reminiszenz an Howard Hawks’ „Rio Bravo“ mit John Wayne, der wiederum die kaputte Spätwesternvariante von „Zwölf Uhr mittags“ ist. Außerdem soll er auch von George A. Romeros „Die Nacht der lebenden Toten“ (1968) inspiriert worden sein. 2005 gab es schon einmal ein (US-)Remake: „Das Ende – Assault on Precinct 13“ mit Ethan Hawke und Laurence Fishburne.

Mutiges Erzählfernsehen. Mit brisanten Themen & Botschaften will Murot nicht dienen
Ob man als Zuschauer das Original kennt und von den filmischen Bezügen weiß oder nicht, dürfte für die Rezeption kaum entscheidend sein. Wer völlig unbeleckt an diesen wuchtigen Genrethriller mit Charakter-Zugabe herangeht und akzeptiert, dass in den Murot-„Tatorten“ der realistische Ermittlerkrimi einmal mehr Pause hat, der sollte die Spannung und die Genre-Ironie, die dieser Film vermittelt, goutieren können. Denn wie schon bei Carpenter wird auch in „Angriff auf Wache 08“ ein Tag wie jeder andere zu einem Tag, an dem das Chaos über einige Menschen hereinbricht. Dabei könnte man die Ereignisse um das Polizeirevier auch als Sinnbild für die soziale Ausgangssituation in der Geschichte verstehen. Von 21 Gewaltdelikten in nur einer Nacht weiß der von Stubers Ko-Autor Clemens Meyer verkörperte Radio-DJ im Film zu berichten („Hat die Polizei bereits kapituliert?“). Nach einer Sonnenfinsternis,  die die kriminelle Energie der Deutschen weckt, ist von Plünderungen, Feuer und Gewalt die Rede.

Tatort – Angriff auf Wache 08Foto: HR / Bettina Müller
Ikonografie der Bedrohung. Rache(p)akt. Nur der Zuschauer weiß mehr, sieht kurz in die Gesichter der Angreifer: Kalle (Liliom Lewald) und Draco (Neven Pilipovic)

Ideologiekritik ist fehl am Platze… „Als hätten sich Islamisten und Nazis verbündet“
Wie schon vor 43 Jahren macht es keinen Sinn, diesen Plot ideologiekritisch zu analysieren und Sätze und Begriffe auf die Waage der political correctness zu legen. „Wenn sich der Abschaum der Welt zusammenrottet, dann Gnade uns Gott“, beschwört beispielsweise Brenner, jener Bulle mit einem gewissen Faible für die 80er-Jahre-RAF („Da war die Welt noch in Ordnung, da gab’s wenigstens noch richtige Terroristen“). Wie in „Assault – Anschlag bei Nacht“ und in dessen Referenzfilm, Romeros erstem Zombie-Movie, bleiben die Angreifer gesichtslos. Allenfalls im ersten Drittel sieht man vier junge Männer, die mit Blut und Schnaps einen Rachepakt schließen. Murots Satz „Als hätten sich Islamisten und Nazis verbündet“ ist in den 90 Minuten die Äußerung mit dem größten realpolitischen Bezug. Man kann ihn auch als ironischen Kommentar lesen über die Allgegenwart dieser realen Gefahren in deutschen Krimis, die ja gern diese gesellschaftspolitischen „heißen Eisen“ anpacken, wobei diese gut gemeinten Themenkrimis, ja immer auch der Dialektik der Aufklärung unterworfen sind (eine Erkenntnis, die besonders in Frankfurt Schule gemacht hat) – also immer auch Unterhaltung bleiben. Man sollte sich also nicht davon beeindrucken lassen, dass türkisch-arabische Macker das (Genre-)Böse darstellen, sondern diesen „Tatort“ als mutiges Erzählfernsehen sehen.

Keine Handys, kein Internet, kein Polizeifunk: statt digitale Welt ein RAF-Zielobjekt
Auch wer das Original kennt, für den dürfte dieses deutsche Remake nicht überflüssig sein. Denn Thomas Stuber und Clemens Meyer übernehmen zwar viele narrativen Motive vom Plot, ihnen gelingt es vor allem aber auch, das Urszenario auf die narrativen Gepflogenheiten sowohl des Murot-„Tatorts“ als auch der hiesigen Fernsehfilmfiction zu übertragen. Eine gute Idee sind die an der deutschen RAF-Geschichte orientierten Vitas. Murots Nähe zur terroristischen Weiblichkeit war bereits Thema in „Wie einst Lilly“, Tukurs Einstand im „Tatort“. Jetzt wird Murots BKA-Kollegen eine Liebschaft mit einem RAF-Zielobjekt in die Biographie geschrieben. So haben auch die Ruhemomente ihre kleinen, menschlichen Ge-schichten, in denen gesellschaftliche Standpunkte ansatzweise zur Sprache kommen. Reizvoll ist es auch, mal wieder einen kommunikationstechnisch „naiven“ Thriller zu sehen, bei dem die Handlung auf die eine Bedrohungssituation (ein Haus, viele Angreifer, wenig Verteidiger) heruntergebrochen wird. Die digitale Welt bleibt draußen: keine Handys, kein Internet, nicht einmal Polizeifunk. Wie das alles motiviert wird und welcher Kommunikationscode am Ende das Überleben sichert – das ist ziemlich clever ausgedacht und durchaus plausibel erzählt.

Tatort – Angriff auf Wache 08Foto: HR / Bettina Müller
„Du hast heute getötet, Jenny“. Der Serienmörder philosophiert. „Es gibt kein Gut und kein Böse. Es ist ein Teil von uns. Es lässt dich nicht los.“ Thomas Schmauser und Paula Hartmann – ein Hauch von Hopkins/Foster und „Das Schweigen der Lämmer“

Der Serienkiller ballert aus allen Rohren, und Murot flirtet mit einem weiblichen Fan
Und weil die Vernetzung mit dem Draußen nicht funktioniert, müssen drinnen ungewöhnliche Koalitionen geschlossen werden. So kriegt der von Thomas Schmauser vielschichtig und ambivalent gespielte morbide Serienkiller auch eine Waffe in die Hand: wie in „Rio Bravo“, in „Assault“ und auch in dem US-Remake „Das Ende“ (2005) wird sie ihm zugeschmissen, und er bedankt sich mit einem Volltreffer. Wenig später beißt er einem Angreifer, bevor der Murot erschießen kann, in den Arm. Es folgt ein anerkennender Blick. Schmausers sanfter Killer hat auch eine starke Szene mit dem traumatisierten Girlie, ein etwas bizarrer Diskurs über Gut und Böse. Und es finden sich sogar zwei Seelenverwandte: Murot und die Verkehrspolizistin kommen sich während des Belagerungszustandes näher. Schon bei der ersten Begegnung ist es mehr als Sympathie auf den ersten Blick. Christina Große setzt den entsprechenden Schlafzimmerblick auf und trifft damit ausnehmend gut Laurie Zimmers Erotik der Vorlage.

Soundtrack: The Temptations („My Girl“), Albert Hammond („It never rains in southern California“), Turtles („Happy Together“), Herbert von Karajan („Karelia Suite Op.11: 1. Intermezzo“), Patriotic Fathers („When Johnny comes marching home“), Diana Ross („Upside Down“)

Tatort – Angriff auf Wache 08Foto: HR / Bettina Müller
Unerwartete Koalitionen. Sterben oder Helfen oder beides? Schließer Jörg (Jörn Hentschel), der der hysterischen Rolle von Julie aus „Assault“ nachempfunden wurde, Felix Murot (Ulrich Tukur) und Kermann (Thomas Schmauser), der Kannibale.

Erinnerungen an ein unschuldiges Genreerzählen – voller Anspielungen & Zitate
Und so trifft „Angriff auf Wache 08“ bei aller Variation des kulturellen Erzählrahmens sowohl den Geist der Vorlage als auch deren narrative Motive und einige Aspekte der Ikonografie. Und für Fans von „Assault“ und artverwandten Genre-Filmen der 1960er und 1970er Jahre, wie sie Don Siegel („Der große Coup“), Sam Peckinpah („Wer Gewalt sät“) oder Walter Hill („Driver“) geschaffen haben, dürfte dieser „Tatort“ – auch wenn er „nur“ Fernsehen ist – eine wehmütige Erinnerung an ein unschuldiges Genreerzählen sein. Anknüpfungspunkte gibt es viele – von vagen Anspielungen bis zu konkreten Zitaten. Im Dialog tauchen Spielbergs „Indiana Jones“, Regisseur Walter Hill oder „Nummer 5 lebt“ auf, jener Roboter, der hier sogar noch einen originellen zweiminütigen Soloauftritt bekommt. Auch der berühmte Schepper-Elektronik-Score von Carpenter selbst, wird zumindest im Vorspann und in einigen Szenen mit der Jugendbande in der Filmmusik von Bert Wrede nachempfunden. Beim Pop-Soundtrack und der bewusst affigen Moderation von DJ Ecki fällt einem sofort entweder „American Graffiti“ ein, in dem Kult-Radiomacher Wolfman Jack diese Rolle übernommen hat, oder „Good Morning, Vietnam“ mit Robin Williams als Adrian Cronauer. Musik ist auch auf der Handlungsebene von Bedeutung. So wird „Upside Down“ von Diana Ross als Stimmungsaufheller benutzt: „Musik als Waffe, psychologische Kriegsführung“, sagt das Girlie – und dabei rüsten sich die letzten Überlebenden mit allem, was die Wache an Waffen zu bieten hat, für den letzten Kampf. Kein Zufall ist sicher auch, dass „The End“ von den Doors angespielt wird: „Das Ende“ hieß „Assault“ – nachdem Carpenters „Klapperschlange“ ein Kinohit war – 1982 beim zweiten Kinostart. Und Peter Kurths Walter Brenner, gewiss eine Reminiszenz an Walter Brennan aus „Rio Bravo“, spielt gegen Ende eine Wehmutsmelodie auf der Mundharmonika – ein typisches Westernmotiv. Das Lied, das er anstimmt, ist „Wand’rin‘ Star“, ein Musical-Song, den Lee Marvin in der Filmversion namens „Westwärts zieht der Wind“ (natürlich ein Western!) 1970 zum Nummer-1-Hit machte. Das alles zusammen macht einfach Laune. Bei diesem „Tatort“ bin ich Fan, hier darf ich’s sein.

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HR

Mit Ulrich Tukur, Peter Kurth, Christina Große, Thomas Schmauser, Barbara Philipp, Paula Hartmann, Clemens Meyer, Jörn Hentschel, Vittorio „Vito“ Pirbazari, Peter Moltzen, Andreas Schröders, Sascha Nathan

Kamera: Nikolai von Graevenitz

Szenenbild: Manfred Döring

Kostüm: Francesca Merz

Schnitt: Stefan Blau

Musik: Bert Wrede

Redaktion: Jörg Himstedt, Liane Jessen

Produktionsfirma: Hessischer Rundfunk

Drehbuch: Clemens Meyer, Thomas Stuber

Regie: Thomas Stuber

Quote: 7,98 Mio. Zuschauer (23% MA)

EA: 20.10.2019 20:15 Uhr | ARD

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