Willy Schubert hat seinen 55. Hochzeitstag nicht überlebt. Und schlimmer noch: er wurde vergiftet. Der ehemalige Rechtsanwalt litt an Osteoporose. Die Meinungen über seinen Gesundheitszustand gehen weit auseinander. Schuberts Hausarzt stufte die Lebenserwartung seines Patienten besonders gering ein. Die Hinterbliebenen sind geschockt – aber alle hatten ihre liebe Not mit dem pflegebedürftigen Familienoberhaupt. „Da war das sicher eine Erleichterung, dass Ihr Vater gestorben ist?!“ Diese etwas nassforsche Frage von Kommissar Bootz will die Tochter, die wieder ihren Lehrerberuf aufgenommen hat, überhört haben. Ihr Bruder, der eher dazu neigt, Verantwortung zu meiden, hat finanzielle Probleme. Und auch der Schwiegersohn, der die Kanzlei übernommen hat, lag mit Schubert, dem renommierten Opfer-Anwalt, oft überkreuz in Fragen der Ethik. Und selbst der reichlich verwirrten Ehefrau ist offenbar ihr Mann mehr und mehr zur Last gefallen.
Es werden viele Fässer aufgemacht im SWR-„Tatort: Altlasten“. Um dem Krimi-Ritual Genüge zu tun, wird das Personal der Reihe nach durchleuchtet. Um jedem auch nur den Hauch eines Mordmotivs zu geben und damit die Krimihandlung in der Schwebe zu halten, wird die Tochter mit einem Trisomie-23-Kind „ausgestattet“, wird der Sohn zum klassischen Versager und der Schwiegersohn zum Karriereanwalt gestempelt, der notfalls auch mal einen Kinderschänder verteidigt. Und die Anflüge von Alzheimer machen auch die Witwe verdächtig. Allein der Exkurs in die unzulängliche Medikationspraxis deutscher Ärzte erweist sich weniger als eine Krimi-erhaltende Maßnahme, sondern dient als bloßer sozialkritischer Rüffel. „Ein toter Rentner ist Ihnen also lieber als einer, der Ihr Budget unnötig belastet“, schimpft die Staatsanwältin gar nicht sexy. Ganz so deutlich hätten wir es nicht gebraucht!
Das ist alles dramaturgisch durchschaubar – und doch öffnen sich immer wieder Türen in eine ganz andere Geschichte. In deren Zentrum steht Brise Schubert, die Frau des Toten. Sie will sich nicht bevormunden lassen, will keinem zur Last fallen, hat aber deutliche Aussetzer, die in Richtung Alzheimer weisen. Keiner aus der Familie merkt es. Kommissar Lannert, nicht allein von Berufs wegen ein guter Beobachter, sieht es – und er versteht auch, was diese Frau durchmacht und durchgemacht hat. Ihre erste Tochter wurde, als sie 10 Jahre alt war, ermordet. Lannert fühlt mit. „Ich habe meine Frau & meine Tochter verloren“, tröstet er sie.
„Altlasten“ hat seine Stärken in der Psychologie der Geschichte. Da stimmen die Motivationen, was sich besonders nach der Auflösung des „Falls“ retrospektiv herausstellt. Aber auch die Qualität der dramaturgischen Konstruktion erschließt sich erst vollständig vom Ende her. Wunderbar auch das Kammerspielkrimi-Ritual, bei dem alle Verdächtigen zu einem gemeinsamen Treffen geladen werden. Und so legt sich nach 90 Minuten ein milder Schleier, erzeugt vor allem von Bibiana Zellers und Richy Müllers einnehmendem Spiel, über diesen 750. „Tatort“: Der Krimi ist vergessen – aber es bleibt eine anrührende und sehr wahre Geschichte, die der Generation der Baby-Boomer besonders nahe gehen dürfte.