So etwas haben Jule Zabek (Sophie Pfennigstorf) und ihr erfahrener Kollege Karl Hidde (Alexander Held) noch nicht gesehen: Auf dem Oberkörper einer Leiche prangt das Todesdatum des Mannes. Bei einem zweiten Toten aus jüngster Vergangenheit wurde das Tattoo offensichtlich weggelasert. Geht da ein Serienmörder um, der mit seinen Opfern wochenlang Katz und Maus spielt? Aber weshalb sind die Männer nicht zur Polizei gegangen? Haben sie sich vielleicht selbst etwas zu Schulden kommen lassen? Die Ermittlungen bestätigen das. Der eine hat mit Hilfe von K.-o.-Tropfen reihenweise Frauen aus Clubs abgeschleppt. Der andere hat eine Mitarbeiterin am Arbeitsplatz vergewaltigt. Diese Nina Fischer (Cheyenne Demont) gehört zu einer Gruppe von Frauen, die im Female Fight Club Selbstverteidigung trainieren. An vorderster Front steht ein Trio, das extreme Erfahrungen mit männlicher Gewalt gemacht hat – neben Nina: Trainerin Martha (Lo Rivera), eine besonders harte Kämpferin, und Anja Mertens (Anna Herrmann), die sich weniger männerfeindlich gibt, sogar mit einem – allerdings soften Exemplar – Mann (Helgi Schmid) zusammenlebt. Ihr letzter Partner (Jonas Minthe) hatte sie gegen ihren Willen zum Sex gezwungen. Der könnte nun ein weiteres Opfer werden. Auf dessen Brust eintätowiert ist der 14. Februar, Valentinstag, der Tag von Anjas Vergewaltigung.
Foto: ZDF / Sandra Hoever
Sind in „Ablaufdatum“, der 26. „Stralsund“-Episode, also drei mordende Rächerinnen am Werk? Oder spielt nur eine von ihnen den Racheengel? Der Zuschauer weiß von Beginn an mehr als die Kommissare. Gleich in der ersten Szene verläuft ein Blind Date anders als erwartet. Martha spielt den Lockvogel, zwei vermummte Personen stoßen wenig später dazu. Zu dritt überwältigen sie den Mann, der sonst vor allem in Techno-Clubs sein Unwesen treibt, und tätowieren ihm etwas auf den Oberkörper. Nach ersten Ermittlungen stoßen Hidde & Co auf jenen Female Fight Club. Jule Zabek will nur eine Routinebefragung durchführen, hat dann allerdings ein Club-Probeabo in der Tasche, trainiert mit den Verdächtigen und ermittelt undercover. Das stößt bei dem neuen Kollegen Tomasz Nowak (Jakub Gierszal) auf Unverständnis. Er ergreift Partei für die Frauen: Sie seien traumatisiert – und jetzt würden auch noch von der Polizei deren Persönlichkeitsrechte missachtet. Hidde sieht das nicht so dramatisch. Also schnüffelt die junge Kollegin weiter. Wenig später gerät sie im Club in einen Überfall; der Mann, der sie in der Umkleide angreift, kann entkommen, aber spätestens jetzt gehört Zabek zum inneren Kreis der Frauen. Das ist nicht nur dramaturgisch clever, was den Krimifall betrifft, sondern auch für die Dramen dahinter. Informationen, die die Kommissarin im Club-Alltag, zwischen Training und Kämpfen, aufschnappt, bekommen eine andere Unmittelbarkeit als Befragungsergebnisse, mit denen ohnehin nicht zu rechnen ist. Selbsthilfegruppe und private Gespräche sorgen zudem für Nähe und mehr Emotionalität. So erhält Zabek (wie die Zuschauer:innen) Einblick in die Gewalt-Erfahrungen der Frauen, ja, sogar sie selbst öffnet sich und erzählt von ihrem Beziehungstrauma, bei dem es am Ende einen Toten gab. Dieses von Sophie Pfennigstorf stark gespielte Bekenntnis mit einem Anflug von Panikattacke hat etwas Befreiendes für die Kommissarin und lässt sie fortan ein Stück weit lockerer erscheinen.
Foto: ZDF / Sandra Hoever
Was bei anderen Kommissaren zur Methode gehört, ist bei Jule Zabek kein psychologischer Polizeitrick. In ihrem sechsten Fall arbeiten die Autorinnen Lena Fakler („Am Ende der Wahrheit“) und Zarah Schrade („Aufgestaut“) mehr denn je mit dem Narrativ „Eine wie wir“. Und das vor allem ist das Besondere an dieser jungen Ermittlerin: Selbst in Plattenbauten groß geworden, ein Teenager mit schwieriger Vergangenheit, der vielleicht sogar auf der anderen Seite des Gesetzes hätte landen können (ähnlich wie einst im Rostocker „Polizeiruf“ Charley Hübners Bukow). Ausgerechnet die Frau, die kühl, wie hinter Glas, agiert, keine größeren Emotionen zeigt und fürs Lächeln in den Keller geht, ist zu echter Empathie fähig. Viel zu selten sind deutsche Kommissar:innen auch Menschen. Es wäre zu hoffen, wenn „Stralsund“ weiter auf diesen Spuren à la „Polizeiruf“ Halle, Magdeburg, Rostock & München wandeln würde.
In „Ablaufdatum“ eröffnet dies besagte Drama-Möglichkeiten, zum anderen sorgt es für die spannende Frage: Was passiert, wenn der Verrat auffliegt? Die Macherinnen lösen das illegale Undercover-Spielchen Episoden-typisch in Form eines furiosen Straßen-Fights auf – was auf ein weiteres typisches Merkmal von Jule Zabek bzw. Sophie Pfenningstorf verweist: ihre Physis, ihre Körperlichkeit. Diese ist weder behauptet noch übermenschlich. Zabek kämpft nicht so elegant artistisch wie eine Irma Vep, nicht so spielerisch wie Emma Peel, aber ihr dunkles Outfit inklusive coole Mimik hat in einer Reihe wie „Stralsund“ nicht nur eine „realistische“ Note, sondern gleichsam etwas Ikonisches. In den ersten Jahren von „Stralsund“ – die Reihe startete 2009 – war Action ein zentraler Bestandteil der Filme; häufig wurde das ganz große Besteck ausgepackt. Dass das nicht unbedingt sein muss, zeigt diese Episode von Ziska Riemann („Electric Girl“), die im Schlussdrittel mit noch so manchem Plot-Twist auftrumpft und am Valentinstag die Nerven aller kitzelt. Der rasante Showdown sorgt dafür, dass kaum Zeit bleibt, sich über die wilde narrative Konstruktion zu wundern. Mehr sollte nicht verraten werden.
Foto: ZDF / Sandra Hoever