Brock sitzt im Rollstuhl, wird Augenzeuge einer Tötung – und keiner glaubt ihm
Brock (Heino Ferch) ist am Ende. Sein letzter Einsatz für die Wiener Polizei hätte ihm beinah das Leben gekostet. Mesek (Juergen Maurer) hatte den Psychologen ins Team geholt, um ihn besser kontrollieren zu können. Und auch jetzt hat der korrupte Revierleiter wenig von Brock zu befürchten. Es gibt keine Beweise gegen ihn, alle Zeugen sind tot, und der einzige, der die Wahrheit kennt, ist ein Wrack, sitzt im Rollstuhl, kifft, säuft, ertrinkt in Selbstmitleid – und vertreibt sich die Zeit mit dem Beobachten seiner Nachbarn. Dabei sieht er eines Abends, wie eine junge Mutter (Violetta Schurawlow) und ihr Baby von einem Mann (Lukas Miko) auf der Straße bedroht werden. Ist es ihr Mann, ihr Ex, ihr gemeinsames Kind? Die beiden kennen sich jedenfalls. Brock reißt das Fenster auf, brüllt und kann so Schlimmeres verhindern. Beim nächsten Mal ist er machtlos, und er ist sich absolut sicher, Augenzeuge zumindest eines Todschlags geworden zu sein. Die Polizei, sein Kumpel Tauber (Wolfgang Liebmann), selbst seine Tochter Petra (Sabrina Reiter) glauben ihm nicht. Also muss er seine Psychiaterin Brigitte Klein (Katrin Bauerfeind) von seinen Theorien überzeugen. Er hat Glück: Obwohl die Frau von gegenüber (Nagres Rashidi) wieder aufgetaucht ist, Brock deren Identität allerdings in Frage stellt, glaubt ihm die Psychiaterin – und sie geht mit ihm sogar auch noch ins Bett.
Radikales Erzählen: Die Reduktion wird von der Handlung auf den Raum übertragen
Mit „Fenster-zum Hof“-Referenzen, elaborierter Bildsprache und einem sich über mehrere Episoden erstreckenden Sub-Plot, der wie eine latente tödliche Bedrohung über der traurigen Existenz der Hauptfigur zu schweben scheint, gelingt es Regisseur Andreas Prochaska und Autor Martin Ambrosch mit „Sehnsucht“ die stets hohe Qualität ihrer österreichisch-deutschen Krimidrama-Reihe „Spuren des Bösen“ noch zu überbieten. Das Prinzip der Reduktion wird von der Handlung, der Sprache und dem Spiel ausgeweitet auf die Räume, auf die Blicke und Perspektiven. Besonders zu Beginn sitzt man als Zuschauer mit dem kaputten Helden in seinem Käfig, sucht nach Orientierungspunkten. Die Bildausschnitte geben wenig preis. Dieser Mann im Bademantel, das Gesicht völlig zugewachsen, suhlt sich in seinem Unglück, schmort im eigenen Saft. Es ist Sommer, es ist heiß und der Schweiß glänzt auf Heino Ferchs Stirn. Mit dem Fernglas holt sich Brock ein Stück der Welt in sein selbst gewähltes Gefängnis. „Warum gehen Sie nicht raus? Warum schließen Sie dreimal ab?“, will die attraktive Psychiaterin wissen. Brock schweigt. Der Zuschauer kennt die Antwort. Auch den bohrenden Fragen der Tochter, die in der Abteilung seines skrupellosen Erzfeindes arbeitet, weicht er aus. „Lass es sein, bitte“, er will keine Ermittlungen, denn das hieße Gefahr auch für ihr Leben.
Transzendenz: Zwei Erweckungserlebnisse reißen den „Helden“ aus der Depression
Es kann mit Brock nicht so weitergehen. Es muss sich etwas ändern. Und so folgen der Phase von Depression und Delirium zwei Erweckungserlebnisse, die einen Brock hervorbringen, den man so in den bisherigen Episoden noch nicht gesehen hat. Seine Tochter, die die schlechte Verfassung ihres Vaters nutzt, um ihm ihren Freund vorzustellen, ist schwanger. Brock ist sprachlos, aber sichtlich ergriffen. „Ich hab‘ dich sehr lieb“, haucht er ihr entgegen und umarmt sie dabei. Wenig später wird er mit einem Lächeln einen weiteren für ihn untypischen Satz sagen: „Ich fühl‘ mich wie neu geboren.“ Objekt der erwachten Lebenslust ist Brigitte Klein. Die Psychiaterin macht für ihn die Grace Kelly – und er verguckt sich dabei in diese Frau, die ihm so ähnlich ist. Riet sie ihm bei ihrer ersten Stippvisite cool, endlich seine Tochter „loszulassen“ und sich lieber eine Partnerin zu suchen, spiegelt sie ihm bald seine eigenen Schwächen, gibt ihm aber auch sein geistiges Kapital zurück: seinen analytischen Verstand, seine Direktheit, seine narzisstisch arrogante Freude daran, alles besser zu wissen. Mit dieser Frau bietet sich ihm ein heilsamer Ersatz für seine einzige bisherige Bezugsperson. Und er hat Glück. Sie ist nicht abgeneigt. Denn sie, die zuletzt eine gleichgeschlechtliche Beziehung hatte, „möchte endlich mal wieder wissen, wie sich ein Mann anfühlt.“ Aber ob das ausreicht für eine amouröse Liaison über 90 Filmminuten hinaus? Zumal es da ja noch diesen anderen Mann gibt, den Mörder, dem alles zuzutrauen ist. Und wie zuletzt die Episode „Wut“ zeigte, ist ja in dieser Reihe alles (Grauenhafte) möglich. Und so hält denn auch „Sehnsucht“ am Ende einige Hochspannungsminuten für den Zuschauer parat; denn nicht nur Brigitte Kleins, auch Richard Brocks Leben steht schon wieder – wortwörtlich – auf des Messers Schneide.
Moderat horizontal: „Spuren des Bösen“ könnte künftig noch spannender werden
Die Ausnahme-Reihe will ihr Potenzial offenbar künftig noch stärker ausschöpfen. Die Liebeserfahrung (ob mit oder ohne Zukunft) und die Schwangerschaft der Tochter, die den Psychologen Opa werden lässt, können dem bislang vom Schmerz geprägten Leben Brocks, der in der Backstory der Reihe seine psychisch kranke Frau durch Suizid verlor, vielleicht über diese achte Episode hinaus eine neue Richtung geben. Wohl nur seelisch gesundet wird Brock seinem Widersacher Mesek auf Dauer Paroli bieten können. Autor Ambrosch hat also einen guten Weg eingeschlagen, um die episodische Erzählstruktur von „Spuren des Bösen“ mit Hilfe einer moderat horizontalen Narration noch attraktiver zu machen. Bei einer Reihe, die über Jahre von einem einzigen Autor verantwortet wird, liegt im Zeitalter des intelligenten seriellen Erzählens ein solcher Schritt auf der Hand. Über das Durchleuchten seelischer Abgründe und menschlicher Grundemotionen hinaus sind vielleicht sogar noch vielschichtigere, vielfältig spannende Geschichten möglich. Erste Anflüge von Ironie und Humor haben sich bereits in die zweite Hälfte von „Sehnsucht“ eingeschlichen. So darf Brock schmunzelnd mitansehen, wie der tanzwütige Elektroeisenbahnfan von gegenüber und seine Haushälterin Spaß miteinander haben. Noch mehr Laune macht ihm, dass jene unwissende Anni beinah etwas von der Haschischsachertorte schmaust… Gerade weil Ambrosch und Prochaska ihre Geschichten weiterhin als minimalistische Mikro-Dramen erzählen werden, können die Zuschauer auf die nächsten „Spuren des Bösen“ besonders gespannt sein.