Silvia (Maria Simon) hat einen schweren Stand in ihrer Herkunftsfamilie. Für die Mutter (Ulrike Kriener) ist sie die Traumtänzerin, die keine Verantwortung übernehmen will. Und zwischen ihr und der älteren Schwester Uta (Sophie von Kessel) schwelt ein bis in die Kindheit zurückreichender Konkurrenzkampf. Im Erwachsenenalter wurde das Verhältnis dadurch weiter belastet, dass der Vater der vernünftigen Uta die Leitung seines Architekturbüros übergab. Silvia fühlte sich übergangen. Nichtsdestotrotz steigt die studierte Architektin, seit Jahren im Hausfrauenstand, jetzt wieder – zunächst mit „Heimarbeit“ – in die Firma ein. Ihre erster Job endet mit einem Fiasko. Sie sollte die Lobby eines Großhotels entwerfen, liefert aber ein überambitioniertes Modell fürs ganze Hotel. Ihrem Mann Andreas (Florian Lukas) und ihrer Tochter Laura (Paula Hartmann) verkauft sie ihren Entwurf als Riesenerfolg. Als die Wahrheit herauskommt, Uta ihr zum besseren Wiedereinstieg eine Assistentenstelle anbietet und Andreas das unterstützt, flippt Silvia aus. Sie, die Innovative, die Kreative, die Assistentin ihrer Schwester!? In der Folgezeit zieht sie sich immer mehr von ihrer Familie zurück. Ihr Mann kommt nicht mehr an sie heran und auch die Tochter zeigt sich irritiert von der übersteigerten Art, mit der die Mutter ihr ihre Liebe zu zeigen versucht.
Der verhängnisvolle seelische Niedergang einer Frau um die 40 steht im Mittelpunkt des ZDF-Fernsehfilms „Silvia S. – Blinde Wut“. Autorin Katrin Bühlig erzählt direkt aus der Psyche der Hauptfigur heraus, übernimmt deren Perspektive als Erzählhaltung und entwickelt so eine Chronologie der Ereignisse, an dessen Ende ein Amoklauf steht. Silvia S. erlebt ihr Leben als eine Abfolge narzisstischer Kränkungen. Die ewige Bevorzugung ihrer älteren Schwester, die fehlende Anerkennung durch ihre Mutter, sogar die Natur meint es nicht gut mit ihr und verweigert ihr weitere Kinder. Noch ist bisher alles gut gegangen. Doch als die alten Wunden wieder aufbrechen und neue hinzukommen, der verpatzte Hotelentwurf, der ihr das Selbstwertgefühl nimmt, die fehlende Sensibilität ihres Mannes, der es gut meint, aber sie nicht versteht, die Ablehnung durch ihre Tochter („Ich hasse sie“), gerät sie unaufhaltsam in einen Teufelskreis. Ihre überzogenen Reaktionen führen zu weiteren Verunsicherungen. Und so dreht sich die tödliche Spirale, weil das keiner durchschaut, unaufhaltsam bis zum bitteren Ende. Auch und vor allem, weil die gekränkte Frau immer weniger zwischen Wirklichkeit und Phantasie zu unterscheiden weiß. Maria Simon spielt Silvia S. und sie deutet diese Anfänge einer wahnhaften Schizophrenie an in ihrem zunehmend glasigen, leicht entrückten Blick.
„Ich habe lange recherchiert, verschiedene Psychologen befragt. Alle Experten sprachen dabei von einer großen Ausweglosigkeit, dem subjektiven Gefühl, nichts mehr zu verlieren zu haben und starken Rachegedanken. Da unterscheiden sich weibliche und männliche Täter nicht. Bei Frauen sind die Ursachen aber oft auch in Familienstrukturen und Beziehungen zu finden, oder aber eine psychische Erkrankung führt zu einem Realitätsverlust.“ (Drehbuchautorin Kathrin Bühlig)
Die Geschichte von Silvia S. aus Sicht eines Psychologen:
„Demütigungen, Kränkungen und Verletzungen wurden zu ihren schmerzlichen Begleitern. Als Frau wie als Mutter wurde sie immer mehr entwertet. Es ist ihr bis zum Schluss nicht gelungen, sich von ihrer Mutter abzulösen. Silvia S. entwickelt eine Suchtpersönlichkeit und zeigt selbstbestrafendes und selbstverletzendes Verhalten. Auch ihre Hauterkrankung ist offensichtliches Zeichen ihrer inneren Befindlichkeit. In der Familiensystematik hat sie von Geburt an eine schwierige Rolle und es gelingt ihr nicht, eine eigenständige Identität zu entwickeln. Früh zieht sie sich in Tagträume zurück, um ihrer Wut und Aggression einen Raum zu geben; jedoch schafft sie es nicht, einen gesunden Umgang mit ihren Aggressionen zu entwickeln. Mehr und mehr zieht sie sich aus der äußeren Welt in ihre inneren Fantasiewelten zurück und zeigt deutliche Episoden psychotischer Entwicklungen.“ (Dr. Christian Lüdke, psychologischer Berater)„Diese ständig selbst herbeigeführte Isolation glaubhaft aufzuzeigen, war für mich das Schwierigste beim Schreiben. Es ist ein schmaler Grat, auf dem sich unsere Hauptfigur bewegt. Ich wollte aus Silvia S. kein Monster machen, keine psychisch kranke Killerin, sondern versuchen in einer glaubhaften Geschichte nachzuvollziehen, wie es zu so einer Tat kommen könnte.“ (Katrin Bühlig)
Um diese verhängnisvolle Persönlichkeitsstörung deutlich zu machen, aber auch, um zu zeigen, wie aus dem Drama die Tragödie erwächst, werden im Film zentrale Situationen, in denen es zu emotionalen Kollisionen kommt und die wegweisend sind für die Entwicklung der Hauptfigur, in doppelter Ausführung gezeigt. Nachdem Silvia erstmals auch ihren Ehemann in ihre Verschwörungstheorien involviert sieht, hat sie sich eine Nacht durch die Stadt getrieben und kommt erst morgens nach Hause. „Du hast mir gefehlt“, eine wohlwollende Umarmung nicht nur der Tochter, sondern auch des Ehemanns, das würde sie sich jetzt wünschen. Stattdessen kommt nur ein Ich-bezogener Vorwurf: „Ich hab dich überall gesucht.“ Als sie später völlig unvermittelt davon spricht, die Scheidung zu wollen, wäre wohl ihr Wunsch, dass ihr Mann sagt, „Schatz, ich liebe dich, ich bin immer für dich da“, und sie daraufhin zärtlich küsst. Doch was kommt? „Warum? Sag’s mir?“ Und als sie später ihre sieben Sachen packt, wäre eine innige Umarmung, das, was ihr gut tun würde, aber nicht dieser Gemeinplatz aus Andreas’ Mund: „Eine Auszeit wird uns gut tun.“ Nicht immer sind es positive Phantasien, es gibt auch negative Vorannahmen, die sich dann als nicht ganz so schlimm herausstellen wie das Zusammentreffen mit einer alten Schulfreundin ihres Mannes; für Silvia ist es dennoch schlimm genug, um alsbald die Flucht anzutreten. Von keiner Seite bekommt diese Frau Zuspruch. Außer am Schießstand. Sie war einmal ganz groß im Biathlon. Sogar deutsche Meisterin. Besonders gut war sie im Schießen – und sie ist es immer noch.
„Silvia S. – Blinde Wut“ erzählt von der Psychologie eines vermeintlich untypischen Amoklaufs. Der Täter ist eine Frau, kein Halbwüchsiger, kein Nerd, kein Fan von Ego-Shooter-Spielen. Maria Simon nimmt den Zuschauer mit ins Unabwendbare und sorgt dafür, dass einem die Geschichte besonders nahe geht (auch wenn – oder gerade weil – der gnadenlose Schluss keinen Ausweg bietet und er den Zuschauer sogar ein Stück weit zum Mittäter macht). Die Psyche der Hauptfigur ist gut recherchiert, woraus sich eine stimmige filmische Studie ergibt. Ein fiktiv-fiktionaler Beitrag zu einem Phänomen, das traurige Aktualität nicht nur in den USA, sondern seit Erfurt, Bad Reichenhall oder Winnenden auch bei uns erlangt hat. Mehr will der Film nicht. Mehr kann ein Film wohl auch nicht leisten. Ähnlich wie der TV-Movie-Klassiker „Tag der Abrechnung – Der Amokläufer von Euskirchen“ mit Christoph Waltz entwickelt der ZDF-Film ein genaues Psychogramm des Täters. Die klare, schnörkellose Inszenierung von Friedemann Fromm („Weißensee“) und die durchweg treffsichere Besetzung veredeln die packende Geschichte. Einige Bilder werden dem Zuschauer in Erinnerung bleiben. Neben den Doppelszenen als Hinweis auf die schizophrene Erkrankung sind es vor allem die Momente, in denen Silvia S. manisch der Tochter ihre Liebe zeigen will und sie dabei eines Nachts im Bett zu erdrücken droht. Szenen, die im wahrsten Sinne des Wortes unter die Haut gehen, sind die Momente, in denen die innere Verletzung ein visuelles Äquivalent bekommt: der Arm, den sich die „Heldin“ kratzt und der immer offener, blutiger und zu einer immer großflächigeren Wunde wird. Ob es wohl einen Moment gegeben hätte, um diese Wunde zu schließen? (Text-Stand: 9.10.2015)