„Der Andere“: Ein Ehepaar lässt sich auf nicht ungefährliche sexuelle Praktiken ein: die Frau schläft mit anderen Männern und ihr Mann filmt sie dabei. Die Gier nach dem Kick endet mit einer Anklage wegen versuchten Mordes. „Schnee“: Einem alten Mann, in dessen Wohnung Drogen gestreckt und abgepackt werden, droht eine hohe Haftstrafe wegen Drogenhandels „unter Mitführung einer Waffe“. Er schweigt, weil ihm das Glück einer jungen Frau wichtiger ist als seine Freiheit. „Ausgleich“: Eine Ehefrau wird über Jahre von ihrem Mann misshandelt und vergewaltigt. Dann ist der Peiniger plötzlich tot, ihm wurde nachts im Schlaf der Kopf eingeschlagen. Ein klarer Fall von Heimtücke? „Die Illuminaten“: Ein Junge wurde in einem Internat über Jahre gemobbt. Endpunkt ist eine tragisch eskalierende Dämonen-Austreibung. Das Fatale: der Teenager fühlt sich schuldig und willigte in das grausame Ritual ein. „DNA“: Ein junges Obdachlosen-Pärchen tötet in Panik einen Mann, beklaut ihn und gibt seinem Leben mit dem Geld eine glückliche Wende – bis die forensische Wissenschaft dem Familienglück ein Ende zu bereiten droht. „Volksfest“: Unbemerkt vergewaltigen die Musiker einer Showkapelle während eines Volksfests eine Kellnerin. Einer der neun Männer ist unschuldig. Wird die Staatsanwaltschaft den Beschuldigten die Tat nachweisen können?
Schuldfrage zwischen Recht & Gerechtigkeit
Ferdinand von Schirach zum Zweiten. Standen in der Serie „Verbrechen“ (2013) nach den Kurzgeschichten des populären Strafverteidigers die Darstellungen der verbrecherischen Tat im Mittelpunkt, verschiebt sich in den Episoden von „Schuld“ der Fokus nun in Richtung auf die Beurteilung der Tat. So rückt in den sechs 45minütigen Filmen ein Abwägungsprozess ins Zentrum, bei dem die Urteile zwar letztlich nach dem Buchstaben des Gesetzes gefällt werden – nicht aber, ohne den Zuschauer in einen moralisch-juristischen Diskurs zu verstricken. Zwar ist das Gefühl ein schlechter Ratgeber für die Rechtssprechung, dennoch gibt es unter den Fällen von „Schuld“ mindestens einen, bei dem nicht nur den betroffenen Protagonisten im Film das Urteil im Halse stecken bleibt. Und manchmal erkennt man nach dem Urteilsspruch, dass vor Gericht nicht die ganze Wahrheit zur Verhandlung kam oder dass eine geringe Manipulation des Sachverhalts ein völlig anderes Licht auf die Tat werfen kann. Und so winkt gegebenenfalls ein Freispruch, wo der Staatsanwalt gerade noch „lebenslänglich“ forderte. Eine faszinierende Sache die (Un-)Schuld-Klärung vor Gericht, keine Frage. Vor allem, wenn die Genese der Tat so akribisch aus der Geschichte der Betroffenen hergeleitet wird wie in „Schuld“. Das ist die Qualität von Ferdinand von Schirach, der eben nicht nur ein Strafverteidiger, sondern auch ein Schriftsteller ist. Er interessiert sich nicht für die Frage nach dem „Bösen“? Für ihn geht es „immer nur um den einzelnen Menschen – es geht um uns, unsere Hoffnungen, unsere Irrtümer, unser Streben nach Glück und unser Scheitern“.
Ferdinand von Schirach: Gut oder böse – das ist nicht die Frage!
„Ich habe zwanzig Jahre lang Mörder und Totschläger verteidigt, habe Zimmer gesehen, in denen das Blut stand, abgeschnittene Köpfe, herausgerissene Geschlechtsteile und zerschnittene Körper. Ich habe Menschen am Abrund gesprochen, die nackt waren, zerstört, verwirrt und entsetzt über sich selbst. Und nach all diesen Jahren habe ich begriffen, dass die Frage, ob der Mensch gut oder böse ist, eine ganz und gar sinnlose Frage ist.“
Ein ungewöhnliches Format: Serie oder Reihe?
Auch wenn „Schuld“ nicht jene Liebhaber des Seriellen befriedigt, die allein im horizontalen Erzählen die Zukunft des Fernsehens sehen wollen, so ist diese Serie durchaus großes Fernsehen. Doch was heißt überhaupt „Serie“? Die sechs Filme, jeweils drei inszeniert von Maris Pfeiffer und Hannu Salonen, nach dichten Drehbüchern von Jobst Christian Oetzmann, André Georgi, Nina Grosse und Jan Ehlert entstanden, funktionieren eher nach den Regeln einer endlichen Reihe mit in sich abgeschlossenen Episoden. Weniger das Wiederkehrende als vielmehr das Besondere ist das Erkennungsmerkmal der Geschichten. Anwalt Friedrich Kronberg ist die einzige feste Größe in allen sechs Folgen. Jede Geschichte ist grundlegend „anders“: mal dominiert eine Art Lebensbeichte, mal sind die Rückblenden Erinnerungsfetzen, die dem Anwalt vorenthalten bleiben, mal wird der Fokus stärker auf die Gegenwart gelegt, mal ist die Gerichtsverhandlung präsenter, mal fehlt sie völlig und mal läuft ein alter Fall in der Erinnerung des Strafverteidigers ab. Und weil die Geschichten „anders“ sind, variiert auch die Dramaturgie. „Schuld“ ist also keine Serie, keine Reihe, sondern eher – wie es Produzent Oliver Berben nennt – „eine Galerie“, bestehend aus sechs Einzelstücken, von denen jedes einzelne erst in Verbindung mit den anderen Stücken richtig zur Geltung kommt. Gerade im Vergleich lässt sich vieles entdecken: Man stößt auf die Problemzonen der Justiz, aber man zieht auch für sich die Grenzen des eigenen Rechtsempfindens, Grenzen, die man nicht zu überschreiten bereit ist, und man „spürt“ vor allem – nicht zuletzt am Ende der Filme – wie unterschiedlich emotional nahe einem die sechs Fälle und Geschichten doch gehen.
Oliver Berben über Recht & Unrecht in „Schuld“:
„Die Trennschärfe, mit der im TV-Krimi üblicherweise Recht und Unrecht säuberlich voneinander abgegrenzt werden, wird bewusst außer Kraft gesetzt und der Zuschauer in die Beurteilung der moralischen Fragen direkt eingebunden. Dabei kann er sich nie zu sicher fühlen: In jeder Folge geht es um ein neues Schicksal, eine neue Geschichte, ein neues Urteil.“
Wie-Spannung & Erzählfluss – zum Hinschauen verführt
Was Erzählstruktur und filmästhetische Gestaltung angeht, lassen sich bei allen Filmen durchgehende Stil-Prinzipien erkennen. Zeitebenen verschmelzen miteinander. Situationen werden häufig assoziativ aneinandergereiht. In den Szenen und Bildern aus der Vergangenheit scheint es, als ob einem die Informationen nicht – wie in einem herkömmlichen Fiktion-Film – von einem Film-Erzähler via Kamera zugespielt würden, sondern als ob die Geschichten direkt aus dem Bewusstsein der Erzählenden oder sich Erinnernden strömen würden. Von großer Sinnlichkeit sind auch die filmischen Details. In besonderen Ausnahmesituationen werden die Bilder digital aufgezoomt und mit Farbfiltern verfremdet. Auch das aus dem ersten von-Schirach-Opus bekannte Spiel mit den Zeichen, den Icons, wird in „Schuld“ beibehalten, allerdings weniger stilbildend: da fliegen bzw. fallen zwei, drei Mal pro Folge symbolhafte Dinge wie eine Filmkamera, Geldscheine, eine Puppe, oder eine Tüte mit Zigarettenstummeln durchs Bild, Dinge, die eine wesentliche Bedeutung für die Handlung besitzen. Insgesamt ergibt sich eine Narration, in die nur das Wesentliche einfließt. So entstehen konzentrierte, von jeglichem Füllwerk befreite filmische Miniaturen, in denen nun genügend Zeit bleibt, dem für den Subtext Bedeutsamen entsprechend viel Raum zu geben. Bedeutsam ist vor allem das, was sich zwischenmenschlich abspielt. Oft glaubt man als Zuschauer zu wissen, wohin die Geschichte im Großen treibt, meist ist das Ergebnis der Tat bekannt, dennoch bleiben die Geschichten spannend. Weil man ständig nach Antworten sucht: weshalb lässt sich das Paar in „Der Andere“ auf diese verhängnisvollen Sexspiele ein? Ist es nur die Langeweile des Luxuslebens? Oder spiegelt sich darin auch ein Stück weit das Muster ihrer Beziehung? Verstehen wollen, heißt bei „Schuld“ mehr als bei klassischen 90-Minütern: Hinschauen. Zu sehen bekommt man einige unserer besten Schauspieler: Bibiana Beglau, Devid Striesow, Hans-Michael Rehberg, Aylin Tezel, Anna Maria Mühe, Jörg Hartmann, Max Hegewald, Alina Levshin, Misel Maticevic und – in der Rolle von Anwalt Kronberg – Moritz Bleibtreu.
Soundtrack: Ferdinand von Schirach – Schuld (Original Soundtrack) / Jennifer Rostock („Schlaflos“ = Titelsong / „Zeitspiel“)
Bleibtreu versus Bierbichler
Bleibtreu fungiert als Verbindungsglied zwischen den sechs Einzelstücken im Gegensatz zu Josef Bierbichler in „Verbrechen“ weniger als Spiritus Rector. In einigen Folgen bleibt sein Kronberg im Hintergrund, und selbst wenn er deutlicher agieren darf, spielt Bleibtreu dennoch zurückgenommen. Das liegt mithin an dieser Figur und wie dieser durchaus erfolgreiche Anwalt seine Aufgabe definiert. Er ist ein anderer Typus als Bierbichlers bajuwarisches Schwerblut Friedrich Leonhardt, er ist ein Denker, aber kein großer Redner. Rhetorisch brillante Plädoyers sind bei ihm eher die Ausnahme. In „Ausgleich“ muss ihn sogar der Richter dazu auffordern, endlich mal aus sich herauszukommen („Ich möchte morgen etwas Vernünftiges von Ihnen hören“). Auffallend ist die sachliche, aber zugleich auch achtsame & respektvolle Art der Befragung (und das, obwohl diese schweigsamen Mandanten nerven müssten). Der angenehm warme Sprachduktus und die weiche Stimme des Schauspielers, der viele Jahre kein Fernsehen mehr gemacht hat, sorgen dafür, dass man diesem insgesamt so zurückhaltenden, ja geradezu bescheiden auftretenden Kronberg gern zuhört und ihm letztlich aufmerksam durch die Filme folgt. Wozu andere Anwaltsserien viel Handlung und ein wenig Gutmenschlichkeit einsetzen, das schafft „Schuld“ allein Kraft der Kommunikation.