„Wir sind doch eine Familie“, heißt es in Polizeifilmen gern, aber selbstredend ist das suggerierte Gefühl von Sicherheit und Solidarität trügerisch; die schlimmsten Verbrechen werden schließlich innerhalb von Familien begangen. Tatsächlich hat die junge Magdeburger LKA-Fahnderin Sonja Becker, genannt Sunny (Friederike Becht), allen Grund dazu, sämtlichen Mitgliedern ihrer Abteilung zu misstrauen, aber das kann sie zunächst noch nicht ahnen. Dass sie neben der Spur ist, hat einen anderen Grund: Nach einer Party ist sie in ihrer Wohnung vergewaltigt worden. Der maskierte Täter hat ihr K.O.-Tropfen verabreicht, weshalb sie sich nur bruchstückhaft an das Verbrechen erinnern kann. Beim nächsten Einsatz haben ihre Nerven versagt, eine Kollegin ist deshalb in große Gefahr geraten. Anschließend hat sie eine Lungenentzündung vorgetäuscht und sich eine Auszeit genommen. Nach ihrer Rückkehr will sie dort weitermachen, wo sie vor der Party aufgehört hat, aber das funktioniert nicht, zumal ihrem Chef (Thomas Loibl), nicht verborgen bleibt, dass mit seiner besten Frau etwas nicht stimmt. Als ein dutzendfacher Frauenmörder aus dem Gefängnis ausbricht, überträgt Keller die Einsatzleitung nicht Sunny, sondern Markus Fechner (Christoph Letkowski).
Clever verteilen die Drehbücher dieser auch über die Dauer von 270 Minuten jederzeit fesselnden, äußerst handlungs- wie wendungsreichen und immer wieder überraschenden Miniserie die Spannung fortan auf zwei Ebenen: hier das Beziehungsgeflecht innerhalb des Teams, dort die Jagd auf den Serienkiller, die sich schon bald zu einem Katz-und-Maus-Spiel zuspitzt, als der Mörder, André Haffner (Felix Klare), in Sunny eine ebenbürtige Gegnerin erkennt. Die Polizistin wiederum ist völlig auf sich allein gestellt, und das nicht nur, weil der bornierte Fechner hartnäckig die falsche Spur verfolgt, anstatt auf ihren Instinkt zu hören: Sie findet heraus, dass der Vergewaltiger ein Kollege sein muss. Außerdem ist Haffner der Polizei stets einen Schritt voraus, und dafür kann es nur eine Erklärung geben: Jemand aus der Abteilung muss ihn mit Informationen versorgen.
Inhaltlich liegt der Reiz der Geschichte neben dem Erzählmuster „Allein gegen alle“ vor allem in der Ambivalenz der beiden Hauptfiguren: Sunny ist gleichzeitig Jägerin und Opfer, wie ultrakurze Rückblenden immer wieder ins Gedächtnis rufen. Sie versucht zwar, auch weiterhin ihrem draufgängerischen Image gerecht zu werden, hat aber regelmäßig Panikattacken. Friederike Becht ist in beiden Facetten glaubwürdig: hier die drahtige Polizistin, die sich erfolgreich in einer Männerwelt behauptet, dort die zutiefst verletzte und entsprechend fragile Frau, die ihre Wut auf den Mörder projiziert. Felix Klares Rolle ist sogar noch vielschichtiger. Natürlich ist Haffner ein Narzisst, aber eben auch ein begnadeter Manipulator, der den Menschen „in den Kopf kriecht“, wie es heißt. Er wählt mit Vorliebe selbstbewusste Frauen aus, die er mit seinem Charme um den Finger wickelt. Der Darsteller musste also ein Mann sein, der nicht bloß attraktiv ist, sondern auch die nötige Ausstrahlung hat. Entsprechend klug war die Entscheidung, ihn von einem Sympathieträger mit freundlichen Lachfältchen um die Augen verkörpern zu lassen. Klare hat solche „Doppelrollen“ bereits gespielt, etwa in dem Drama „Zweimal lebenslänglich“ (2015) als mutmaßlicher Mörder, aber der Rahmen einer Serie bietet natürlich ganz andere Möglichkeiten, die Untiefen einer Figur auszuloten.
Wenn Haffner gegen Ende aus dem Stegreif auf Französisch aus Baudelaires „Die Blumen des Bösen“ zitiert, wirkt das nicht etwa prahlerisch, sondern einfach belesen; und natürlich ist die hübsche Studentin ähnlich beeindruckt von diesem faszinierenden Mann wie die anderen Frauen, die er im Verlauf der Geschichte mühelos um den Finger gewickelt hat. Fast noch grausiger und daher auch eindrücklicher als die beiläufig ausgeführten Morde sind daher die seelischen Abgründe, die der Serienmörder immer wieder offenbart: wenn sich herausstellt, dass ein Anhänger, den er seiner Mutter mit 16 geschenkt hat, von seinem ersten Opfer stammt; oder wenn er beschreibt, wie er es genießt, wenn er in den Augen seiner Opfer erst Verlangen, dann Panik und schließlich die Dunkelheit hinter dem Licht erblickt. Eine vergleichbare Ambiguität prägt das Miteinander der Polizistin und des Mörders: Gleich zu Beginn, als Sunny ahnt, dass Haffner keineswegs das Weite gesucht hat, sondern sich im Gegenteil noch ganz in der Nähe aufhält, läuft sie ihm prompt in die Arme, aber er tötet sie nicht. Die Jägerin und ihre Beute werden ihre Rollen noch häufiger tauschen. In dieser Hinsicht hat das Krimiserien-erfahrene Autorenduo Klaus Arriens & Thomas Wilke („Notruf Hafenkante“) vorzügliche Arbeit geleistet; von der Komplexität ihrer raffinierten Geschichte, in der auch die Nebenfiguren regelmäßig andere Gesichter offenbaren, ganz zu schweigen.
Zum Glück waren die auch binnendramaturgisch sehr plausibel konzipierten Drehbücher bei Florian Baxmeyer und Kameramann Marcus Kanter in guten Händen. Baxmeyer hat zuletzt für Netflix „Tribes of Europa“ (2021) gedreht und mit Kanter diverse „Tatort“-Episoden aus Bremen inszeniert. Die auffallend kreative Kameraarbeit und der Schnitt (Friederike Weymar) sind dynamisch, aber nie hektisch, die Blickwinkel bieten einen abwechslungsreichen Mix aus subjektiven und objektiven Perspektiven; vielen Einstellungen ist anzusehen, dass die Bildgestaltung besonders sein sollte, ohne sich über die Handlung zu erheben. Ausgezeichnet zusammengestellt ist zudem das junge LKA-Ensemble, das bei einem derartigen „Familiendrama“ ja auch als Gruppe funktionieren muss. Trotzdem sind die Mitglieder, die fast alle etwas vor den anderen verbergen, weit mehr als bloß Typen; gerade Oleg Tikhomirov und Lisa Hrdina bleiben in Erinnerung. Die interessanteste Figur ist jedoch ein LKA-Kollege aus Potsdam, der als Verstärkung nach Magdeburg kommt, weil er schon mal mit Haffner zu tun hatte. Torsten Wächter ist angemessen schockiert über die Zustände in Sunnys Abteilung, verfolgt aber in Wirklichkeit eine ganz eigene Agenda; Andreas Döhler versieht diesen Polizisten mit einer angemessen düsteren Aura. (Text-Stand: 10.12.2021)