Nach einer Cybermobbing-Attacke wird der Alltag zum Spießrutenlauf
Nach ihrer Zeit in München hat sich Grundschullehrerin Luisa (Rosalie Thomass) gut eingelebt in der bayerischen Provinz. Die Überschaubarkeit der Kleinstadt hat auch ihre Vorteile. Als der ortsansässige Unternehmer Georg Bär (Johann von Bülow) ihr für den Unterricht Hightech-Gerätschaften besorgen und zur Finanzierung selbst ein paar Euro drauflegen will, scheint er davon auszugehen, dass damit die Gymnasialempfehlung für seinen renitenten Sohn geregelt sei. Luisa sieht das allerdings anders. Wenig später taucht auf der Homepage der Schule ein Nacktfoto von ihr auf. Obwohl es sofort gelöscht wird, jagt jemand eine Mail mit dem Foto durch alle E-Mail-Verteiler der Schule. Gemacht hat das Bild ihr Ex, der es auf einer Rache-Website hochgeladen hat; mit der Cybermobbing-Attacke auf sie hat er allerdings nichts zu tun. Luisa erstattet Anzeige gegen Unbekannt, später gegen Bär; ohne Beweise aber verlaufen die Ermittlungen erwartungsgemäß im Sande. Die Lehrerschaft und die Eltern gehen bald auf Distanz zu diesem „Lehrkörper“, und viele unterstellen Luisa sogar eine unangemessene Freizügigkeit; sie wird von der Rektorin (Johanna Gastdorf) beurlaubt und auch ihr Freund Finn (Shenja Lacher) nimmt sich eine Beziehungspause, um offenbar wieder mit seiner Jugendliebe Kiki (Eli Wasserscheid) anzubandeln, die auch Urheberin der Rufmordkampagne sein könnte. Dann erleidet Luisa einen Nervenzusammenbruch. Nach einem Klinikaufenthalt verschwindet sie spurlos. In ihrer Wohnung gibt es Blutspuren. Die Selbstmordthese liegt nahe. Doch für die Kommissarin (Verena Altenberger) ist das zu offensichtlich: Sie geht von Mord aus. Ist der Rufmörder zum Mörder geworden?
Foto: ZDF / Hendrik Heiden
Die Brüchigkeit sozialer Beziehungen: eine Spirale aus Lügen & sozialer Kontrolle
Der Fernsehfilm „Rufmord“ beginnt mit dem Einsatz der Kripo, die ihre Arbeit aufnimmt. Die Gegend um den See, ein Lieblingsplatz der Heldin, wird (nach der Leiche) abgesucht. Danach fächern Claudia Kaufmann und Britta Stöckle die Vorgeschichte auf, vom glücklichen Alltag bis zum seelischen Zusammenbruch, sie zeigen, wie die idealistische Lehrerin in eine Spirale aus Lügen und sozialer Kontrolle gerät und sie das Gefühl beschleicht, systematisch fertiggemacht zu werden. Dabei schieben die Autorinnen immer wieder Ereignisse aus der Vergangenheit und die aktuellen Ermittlungen spannungssteigernd ineinander. So sieht man Menschen aus Luisas näherer Umgebung, wie sie ihr in den Rücken fallen und wenig später von Schuldgefühlen sprechen. Und irgendwann schlägt sogar die Stimmung um und alle Welt, selbst die eigene Frau (Ulrike C. Tscharre), nimmt an, dass der Unternehmer die ehrabschneidende Cybermobbing-Attacke initiiert hat. Diese Brüchigkeit von sozialen Beziehungen, ausgestaltet an einem kleinstädtischen Mikrokosmos, die Frage, „wie dünn die Firnis der Solidarität in einer Gemeinschaft ist, wie schnell sich Menschen von Meinungen und Lügen verunsichern lassen und bereit sind diese zu akzeptieren und zu glauben“, das hat Jungregisseurin Viviane Andereggen (33) besonders interessiert an dieser Geschicht.
Foto: ZDF / Hendrik Heiden
Lustfeindliche Moral, sexuelle Verdrängungen und alltägliche Frustrationen
Das im Sommer mit dem Münchner Bernd-Burgemeister-Preis ausgezeichnete ZDF-Drama „Rufmord“, das jetzt auf Arte seine TV-Premiere hat, erzählt unter anderem davon, welche kriminellen Energien in Menschen schlummern können. Ausgangspunkt ist ein männlicher Machtverlust, hervorgerufen durch eine Frau, die das gewohnte soziale Spiel nicht mitmacht, die anders ist als die angepasste Weiblichkeit im Ort, obwohl sie eigentlich nur ein ganz klein wenig aus dem gesellschaftlichen Rahmen fällt. Sie legt etwas mehr Wert auf ihr Äußeres als die Kolleginnen und ihre Lehrmethoden sind moderner. Der Film macht deutlich, wie sehr auch das konservative Kleinstadtmilieu mit seiner lustfeindlichen Moral, den sexuellen Verdrängungen und alltäglichen Frustrationen, die Hexenjagd begünstigt. Selbst die Frauen im Ort lassen jede Solidarität vermissen. Tenor: Wer sich vom Freund nackt fotografieren lässt oder enge, knallig rote T-Shirts trägt, ist selber schuld. Mit den Anschuldigungen verblasst das Erscheinungsbild der Heldin. Mit dem täglichen Spießrutenlaufen verliert Luisa ihre Frische, ihre Natürlichkeit, ihre Lebensfreude. Die schmerzlichste Szene: Luisa, am Tiefpunkt angelangt, konfrontiert die „Gemeinschaft“ mit dem verbalen Unrat, den anzüglichen und sexistischen Beleidigungen auf ihrer Mailbox, dann bricht sie nach einer Panikattacke im Wirtshaus zusammen. Das Prinzip ist simpel, die Geschichte ist es nicht: Das kleinstädtische System ist gestört, um es wieder ins Gleichgewicht zu bringen, wird der vermeintliche Störenfried geopfert. Doch im Kampf um ihre Würde gibt sich die Heldin nicht geschlagen. Was wäre, wenn sie das Klischeebild radikal bestätigt, das durch eine Lüge in der Welt und nicht mehr aus den Köpfen herauszukriegen ist? Ließe sich so vielleicht Rache nehmen?
„Der Schock und das Misstrauen geraten außer Kontrolle, während Louisa einen einsamen Kampf um ihre Würde führt. Der Zusammenhalt, die Freundschaft, die Solidarität: alles Illusionen. Die Gesellschaft ist keine Konstante, sie wird leicht verrückt, Menschen können aus Unsicherheit, Dummheit, Feigheit heraus ein Leben ruinieren. Statt Unschuldsvermutung gilt plötzlich Schuldvermutung.“ (Viviane Andereggen, Regisseurin, „Kein Herz für Inder“)
Foto: ZDF / Hendrik Heiden
Kluge Dramaturgie, Filmprache mit Wow-Effekten & Rosalie Thomass Extraklasse!
„Rufmord“ ist auch ein Fernsehfilm der ästhetischen Sonderklasse. Durch die narrative Reduktion (Kleinstadt, wenige Figuren, klarer Konflikt mit Umkehrprinzip) kommt jedem Zeichen, jedem Bild, jedem Motiv, eine besondere Bedeutung zu. Im Vorspann, aber auch später sieht man die Heldin in betörenden Bildern nackt im See schwimmen. Diese magischen Szenen, das Einswerden der Heldin mit der/ihrer Natur, lassen zumindest zeitweilig metaphorisch die Hoffnung aufkommen, dass sich diese junge Frau vielleicht doch noch freischwimmt (oder abtaucht). Auch die Motive einer verdrängten Sexualität gehören zum Subtext der Geschichte. In den meisten Szenen zwischen Bär und Luisa sind von seiner Seite sexuelle Begehrlichkeiten im Spiel; und es ist kein Zufall, dass Bärs zehnjähriger Sohn offenbar ein Foto seiner Lehrerin erotisch manipuliert hat und im Biologieunterricht vom „Sexen“ der Hirschkäfer geradezu begeistert ist. Häufig auch werden Situationen bildlich attraktiv verdichtet. Wenn sich beispielsweise der Noch-Freund der Heldin mit seiner langjährigen Ex zur Aussprache treffen, dann machen sie das in dem Haus, das ihr Vater einst für sie begonnen hat zu bauen und das jetzt im Rohbau in der Landschaft herumsteht – als Zeugnis ihrer gescheiterten Beziehung. Darüber hinaus sorgt die Bildgestaltung von Martin Langer für allerhand Wow-Momente. Und die clever verschachtelte, sehr flüssige, nie anstrengende Dramaturgie macht die Geschichte für den Zuschauer zu einem vielschichtigen Kombinationsspiel in mehreren Tonlagen. Der Film bleibt 90 Minuten lang spannend, erzählt von einer Reise, bei der man nie so genau weiß, ob sie ins Dunkel oder aus dem Dunkel herausführt. An die Hand genommen wird der Zuschauer von Rosalie Thomass, dieser vielfach preisgekrönten Schauspielerin, die sich hier durch alle Gefühlslagen spielt: Sie verleiht ihrer Luisa anfangs eine innere und äußere Kraft, sie gibt ihr Sinnlichkeit und Vi-talität, bald kommen Leere und Verzweiflung hinzu, Trotz und Wut, aber auch ein gespieltes Lächeln und eine falsche Fassade weiß ihr Gesicht glaubwürdig zu erzählen. Ein Stück weit ist ihre zu bemitleidende Lehrerin aber auch beschützenswert, vorübergehend zumindest. Doch für klassische Opferrollen ist Rosalie Thomass nicht geeignet… (Text-Stand: 18.10.2018)