Im Juni 2014 rief eine Rettungsaktion in den Alpen weltweites Medien-Interesse hervor: Johann Westhauser wurde in der Riesending-Höhle, der längsten und tiefsten Höhle in Deutschland, von einem Stein getroffen. Einen Menschen mit schweren Kopfverletzungen, der mehrfach wiederbelebt werden musste, aus 1000 Metern Tiefe durch enge Schächte, eine mit Wasser gefüllte Lagune, über tiefe Abgründe und an Steilwänden empor lebend an die Oberfläche zu bringen, stellte die Retter:innen vor enorme Probleme. Dass Westhauser nach zwölf Tagen aus der Höhle geborgen werden konnte, gelang der Bergwacht nur durch die Unterstützung der Experten und Forscherinnen, die aus Deutschland, Italien, der Schweiz, Österreich und Kroatien zum Untersberg bei Berchtesgaden geeilt waren. An der Aktion waren insgesamt 728 Frauen und Männer beteiligt. In der Höhle arbeiteten mehrere Teams gleichzeitig, um die zwölf Kilometer lange Rettungsstrecke zu „bauen“ und auszurüsten.
Wahrlich eine Riesenleistung im Riesending. Und nun feiert ein Riesenfilm den Mut und die Ausdauer der Retter:innen und die tiefe Menschlichkeit, die in diesem Stoff enthalten ist. Jochen Alexander Freydank („Zorn – Wie sie töten“, „Zero“, „Herzogenpark“), der nach einer Geschichte von Johannes Betz sowohl das Drehbuch schrieb als auch Regie führte, „folgt im Wesentlichen den Stufen der damaligen Rettungsaktion“, wie die ARD im Pressematerial mitteilt. Die Einzelheiten seien jedoch ebenso wie die Charaktere fiktiv. Ohnehin wurden die Namen vorsichtshalber geändert: Johannes Westhauser heißt hier Josef Häberle (Roland Silbernagl). Auch die Namen der anderen Protagonist:innen sind erfunden. Im Abspann wird jedoch ein anderer Eindruck erweckt. Einige Biografien werden in kurzen Sätzen weiter skizziert, als wären die eigentlich fiktiven Figuren dann doch reale Abbilder. Und die Familiennamen werden abgekürzt, als gelte es, Persönlichkeitsrechte zu wahren. Ein seltsam verwirrender Umgang mit Realität und Fiktionalität.
Das ändert allerdings nichts daran, dass der Zweiteiler packend realistisch von der Rettung Häberles alias Westhauser und der Faszination des Höhlenkletterns erzählt, von der Anstrengung und den Gefahren, aber auch dem Reiz, eine kalte, in Dunkelheit getauchte Welt zu erkunden. Dank der Kamera von Thomas C. Dirnhofer ist es ein bisschen so, als hinge man selbst am Seil, als quetsche man sich mit durch den engen Durchgang, als rutsche man ebenfalls über den schmalen Grat. Die Höhlen-Szenen wurden mit erkennbar hohem Aufwand in Kroatien gedreht, und nach entsprechendem Training scheinen sich die Schauspieler:innen wie selbstverständlich am Seil und in engen, felsigen Abschnitten zu bewegen. Bemerkenswert, wie etwa Verena Altenberger und Sabine Timoteo als Höhlenretterinnen unterwegs sind. Licht und Ton sorgen ebenfalls für eine realitätsnahe Anmutung, Kälte und enorme Anstrengung werden spürbar – „großes Kino“ im Fernsehen.
Und die Spannung bleibt hoch, obwohl der glückliche Ausgang bekannt ist. Während Bernd (Christoph Bach) und Lucy Hellersdorf (Sophie Rogall) nach dem Unglück bei dem schwer verletzten Josef bleiben, tritt Ralf Sommer (Jan Messutat) den Rückweg durch die Höhle an, um die Bergwacht zu informieren und die Rettung seines Freundes in die Wege zu leiten. Der Höhleneingang befindet sich jedoch auf 1800 Metern Höhe, wo Sommer noch kein Handynetz findet. Erst nach einem erneut zeit- und kraftraubenden Abstieg kann er in einer Berghütte endlich Alarm schlagen. Parallel zur lebensbedrohlichen Situation „unten“ entwickelt sich nun „oben“ ein Drama um die überforderte Bergwacht, die selbst über keine erfahrenen Höhlenretter:innen verfügt. Im Mittelpunkt stehen Einsatzleiter Bertram Erhardt (Maximilian Brückner) und seine Kollegin Helene Rechlin (Anna Brüggemann), die einst bei einem Lawinenunglück eine folgenschwere Entscheidung trafen, die Kollegen das Leben kostete. Zudem werden sie von Wolfgang Breitsamer (Marcus Mittermeier), dem für Katastrophen-Schutz zuständigen Beamten des bayerischen Innenministeriums, unter Druck gesetzt. Angesichts des hohen Medien-Interesses ist er um einen „guten Eindruck“ besorgt. Derweil trommelt Sommer die verschworene Gemeinschaft der internationalen Höhlenforscher-Szene zusammen. Doch die Expert:innen sind in der Bergwacht-Zentrale nicht willkommen.
Im Mittelpunkt des großen Ensembles steht Birgit Eberharter, umwerfend gespielt von Verena Altenberger, die hartnäckig gegen alle Widerstände um die Rettung ihres verehrten – und vielleicht geliebten – Josef Häberle kämpft. Von Sommer alarmiert, rückt sie direkt vom Kindergeburtstag ihrer Tochter an den Untersberg aus, bietet sich als Kennerin der Riesending-Höhle an und geleitet zuerst einen überforderten Notarzt in die Tiefe. Später bildet sie mit der italienischen Ärztin Raffaela Pardeller (Sabine Timoteo) den Kern der Rettungsmission. Das Leben des Verletzten hängt in 1000 Meter Tiefe am seidenen Faden – und von der ärztlichen Einschätzung ab, ob er überhaupt transportfähig ist. Für Birgit Eberharter kommt von Beginn an nichts anderes als die Rettung Häberles infrage. Sie verleugnet ihre enge Freundschaft zu ihm, treibt permanent an und setzt ihre Gefährt:innen zur Not unter moralischen Druck. Eine Heldinnenreise, von Altenberger so natürlich und unpathetisch wie möglich gespielt. Der bayerische Dialekt, den ihre und andere Figuren sprechen, unterstützt das lebensecht wirkende Spiel. Ähnliches gilt für die sich auf Englisch verständigende internationale Höhlenforscher-Gemeinschaft.
Der Vorlauf wird ausführlicher geschildert als die Rettungsmission selbst. Kamerateams rücken an, Pressekonferenzen werden abgehalten, während hinter den Kulissen um Zuständigkeiten und die richtige Entscheidung gerungen wird. Freydank macht es dem Publikum nicht leicht, denn das Dilemma für den Einsatzleiter ist ja nachvollziehbar. Er trägt die Verantwortung für die Leute, die er in einen Berg schickt, in dem es „Dutzende Gelegenheiten gibt, sich das Genick zu brechen“. Brückner spielt überzeugend, wie es den Bergwacht-Chef innerlich zerreißt, wie er mit dem eigenen Ethos und der Angst vor einem Scheitern der Rettungsmission mit möglichen Todesopfern ringt, wie er zwischen Verantwortungsgefühl, politischer Einflussnahme, medialem Interesse und dem Druck durch die immer größer werdende Helferschar geradezu zerrieben wird. Man kann es verwerflich und provinziell finden, wie er die herbeigeeilten Retter:innen abfertigt. Dennoch ist dieser Einsatzleiter eine differenzierte, keineswegs rein „böse“ Figur, sondern ein Mensch, in dessen Haut man nicht stecken möchte. Das nötige Rückgrat beweist schließlich Helene Rechlin, und so sind vor allem Frauen die entscheidenden, starken Figuren des Films.
Vier Jahre später sorgte eine weitere Höhlenrettung für weltweit noch größeres Aufsehen. Zwölf thailändische Jugendliche und ihr Fußballtrainer konnten erst nach 17 Tagen aus einer mit Wasser gefüllten Höhle befreit werden. Anschließend entstand ein wahrer Medien-Hype um die Geretteten, es folgte eine Fülle von Büchern, Filmen und Serien. Die kaum weniger spektakuläre Riesending-Rettung verschwand dagegen vergleichsweise schnell vom Radar der Medien. Vielleicht auch weil man in Deutschland schneller als anderswo Fragen stellt wie die Reporterin in Freydanks Film: „Wieso ist der überhaupt in der Höhle?“ Eine Antwort zum konkreten Nutzen von Höhlenforschung wird zwar nicht geliefert – oder nur indirekt, über die Faszination der Bilder und die ungebrochene Begeisterung der Eingeweihten. Dafür feiert der Zweiteiler die Menschlichkeit und die Kraft der Gemeinschaft über nationale Grenzen hinweg. Am Ende lässt Freydank die Europa-Fahne wehen. Ein bisschen Pathos nach einem derart emotionalen Ritt darf schon mal sein. (Text-Stand: 29.11.2022)