Erich Kessel (Fritz Karl) darf wieder mitspielen. Die Suspendierung ist aufgehoben, doch es dauert nicht lange, da manövriert sich der unter Korruptionsverdacht stehende Hamburger Ermittler in eine noch aussichtslosere Lage. Alles beginnt mit einem Banküberfall, bei dem ausgerechnet Ruby (Cya Emma Blaack), Kessels an Epilepsie leidende Tochter, kurzzeitig als Geisel genommen wird. Das allein schon bringt den Bullen auf 180. Und dann ist da noch Rubys ausstehende Spezial-OP in USA die sich die Kessels nicht leisten können. Mächtig zu knabbern hat er auch daran, dass seine Frau Claire (Jessica Schwarz) die Scheidung eingereicht hat. Selbst sein Partner und bester Freund Mario Diller (Nicholas Ofczarek), gerade zum Kriminalrat befördert, kann ihn weder in seinem Übereifer bremsen noch Mut machen. Im Gegenteil. Seine heimliche Affäre mit Claire, von der auch Dillers Frau Emma (Anna Loos) noch nichts weiß, könnte die Freundschaft der Buddies auf eine harte Probe stellen. Doch Kessel hat bald ganz andere Probleme. Soraya (Melika Foroutan), die hoch engagierte Muslima-Staatsanwältin, will Kessel unbedingt überführen. Die Chancen stehen gut, da ihr eine Falschaussage in die Karten spielt. Hinter dem ganzen Komplott stecken die einschlägig vorbestraften Mohammed (Sahin Eryilmaz) & Randy (Felix Everding), zwei der drei Bankräuber. Den dritten hat Kessel in Notwehr erschossen; dafür soll der Bulle jetzt bluten. Aber auch der hat einen (kriminellen) Plan. Für den braucht er allerdings Diller.
Foto: ZDF / Marion von der Mehden
Kessel und Diller sind zum dritten Mal im TV-Einsatz – und sie sind unberechenbarer denn je. „Unter Feinden“ nach dem Roman von Georg M. Oswald machte 2013 den Anfang, 2015 folgte das Prequel „Zum Sterben zu früh“, für das sich Lars Becker den Deutschen Fernsehpreis in der Kategorie Regie holte. Gute Kritiken, passable Einschaltquoten für diese emotional düsteren Polizisten-Balladen, aber auch das noch nicht ausgeschöpfte Potenzial der Cops mit der ungewohnt harten Gangart gaben Anlass, die Geschichte weiterzudrehen. Die Fortsetzung dürfte auch dem aktuellen Serien-Boom geschuldet sein: Den versucht das ZDF mit konsekutiv erzählten Krimi-Reihen wie „Kommissarin Heller“, „Stralsund“ oder „Die Toten vom Bodensee“ zu bedienen. Dafür bietet auch Beckers Duo gute Voraussetzungen; und diese Hamburger Geschichten kommen dem am nächsten, was das jüngere Publikum (das man in Mainz noch nicht gänzlich abschreiben möchte) an vergleichbaren US-Serien liebt: ambivalente Charaktere, Cops, die auch ihre dunklen Seiten haben, Krimi-Momente, die bigger than life sind, eine mitunter wilde Dramaturgie und eine nicht immer (psycho)logisch wasserdichte Handlung, in der mehr möglich ist, als der gesunde Menschenverstand wahr haben will. Kurz: eine Genre-Realität, die den Alltag in den Schatten stellt.
Und so darf sich Lars Becker in „Reich oder tot“ (der Titel ist Programm!) mal so richtig austoben und die Erwartungen an einen „normalen“ Krimi unterlaufen. Der Banküberfall mit Geiselnahme zu Beginn ist nur Vorwand, um eine bedrohliche Situation für Erich Kessler zu schaffen. Auch wird in diesem Film nicht klassisch ermittelt. Es geht der Polizei nicht darum, für Recht & Ordnung zu sorgen und Verbrecher zu überführen, sondern es geht für jeden nur darum, die eigene Haut zu retten. Ob Polizei oder Bankräuber – jeder versucht, sich bestmöglich durchs Leben zu schlagen. Wenn 300.000 Euro irgendwo herumliegen und abkassiert werden können, dann ist das für schlecht bezahlte Polizisten immer eine Option. Und auch Loyalität gegenüber dem Freund zählt mehr als das Gesetz, diese Genre-Regel, die in deutschen Krimi-Reihen von „Schimanski“ bis „Kopper“ ständig gebrochen wird, fühlt sich Becker verpflichtet. Ohne Moral können die Cops freier agieren, und wo kein verlässliches Wertesystem herrscht, sind Geschichte & Dramaturgie weniger reglementiert. Bei „Reich und tot“, dessen wendungsreiche Exposition und beziehungslastiger Mittelteil noch recht harmlos wirken gemessen an der Arte-Warntafel („Achtung, diese Sendung enthält Passagen, die empfindsame oder junge Zuschauer schockieren können“), ist es das Schlussdrittel mit dem ebenso brutalen wie überraschenden Finale, das zumindest Liebhaber braver ZDF-Gebrauchskrimis Marke „Ein starkes Team“ oder „Wilsberg“ einigermaßen irritieren dürfte.
Foto: ZDF / Marion von der Mehden
Auch eine andere Erwartung erfüllt der „Nachtschicht“-Erfinder nicht: die der Genre-Fans an einen Großstadtwestern mit Verfolgungsjagden, raffinierter Filmsprache und coolem Genre-Look, was „Unter Feinden“ ansatzweise noch eingelöst hat. Denn „Reich oder tot“ ist streng genommen mehr Drama als Krimi, mehr eine deutsche Tragödie unter Freunden & Familien-Mitgliedern als einer jener Genrefilm-Klone in der gängigen Globalisierungsästhetik (à la „You Are Wanted“). Zu diesen Losern, zu Kessel, der das Unheil anzieht, und zu diesen Bankräubern, die nicht die hellsten Lichter auf dem Kiez sind, würde ein dramaturgisch wie filmisch durchgestylter Hochglanzthriller allerdings auch nicht passen. Und die Figuren sind (seit jeher) Beckers Herzstück, sie bestimmen die Geschichte und das Erscheinungsbild des Films. Sie sind labil, sprunghaft, sie haben Schwächen, und sie bleiben immer unberechenbar. Ihr Verhalten bestimmt die Handlung. Die kriminellen Taten bleiben deshalb eher amateurhaft. Bei aller Genrehaftigkeit ergibt sich daraus ein physischer, alltagsnah situativer Realismus.
Was im dritten Kessel-Diller-Abenteuer gelegentlich ein bisschen abfallen mag, sind die Dialoge, die außerdem im ersten Drittel einige Male etwas ungelenk die Situation aus „Zum Sterben zu früh“ erklären müssen, beispielsweise in der Szene, in der die genervte Claire Kessel dem Bankangestellten bereitwillig Auskunft über die Schandtaten ihres Noch-Ehemannes gibt. Ansonsten gilt für den Text Ähnliches wie für das Bild: Jeder redet so, wie er drauf ist, milieugerecht und selten geschliffen, allenfalls die Staatsanwältin hat eine eigene ausgefuchste Rhetorik. Sehr überzeugend charakterisiert mit Hilfe der Sprache Sahin Eryilmaz („Club der roten Bänder“) seine Figur, den Kriminellen Mohammed. Da ist Leben, da ist Dynamik in seinen rhetorischen Kaskaden, ein Feuerwerk der Falschaussagen, hochdeutsch, aber mit der Emotionalität seiner libanesischen Herkunft. Auch Nicholas Ofczarek und Fritz Karl sind bei ihren rasanten Dialogwechseln in ihrem Element, überzeugen aber nicht minder, wenn sie sich allein mit Blicken und Körpersprache verständigen, Rüffel, Stöße, Umar-mungen oder die Hand am Abzug. Nicht zuletzt ihre Klasse ist es, die nach einer weiteren Fortsetzung schreit. Der Filmschluss ist eine Steilvorlage. (Text-Stand: 20.1.2018)