Eine Familie in Schockstarre. Geplant war ein Sommerfest anlässlich des 80. Geburtstags von Großvater Joachim (Rainer Kühn). Doch der hat es sich anders überlegt, will nicht nur auf die Feier verzichten – und nimmt sich das Leben. Sohn Andreas (Christian Berkel) sucht nach rationalen Erklärungen – vergeblich. Schwiegertochter Bibi (Bibiana Beglau) ist schwer angefasst, weiß dies aber hinter ihrer vernünftigen Art zu verbergen; sie hatte einen besseren Draht zu dem lebensmüden Mann als sein Sohn. Selbst Andreas Schwester, Ulrike (Andrea Sawatzki), eine eher schwierige Person, die nicht wie ihr Bruder Tür an Tür mit ihrem Vater wohnt, scheint dem Alten näher gewesen zu sein. Prompt kommen die unseligen Familiengeschichten auf den Tisch. Besonders Enkelsohn Clemens (Thomas Prenn), der den engsten Kontakt zu Christian hatte, hadert mit dem Schicksal. Durch einen testamentarischen Brief, durch den sich Andreas bestärkt darin sieht, dass sein Vater ihn ein Leben lang benachteiligt habe, wird zusätzlich Öl ins Beziehungsfeuer gekippt. Als dann auch noch die lebenslustige Tante Bernadette (Ursula Werner) aus Paris auftaucht, scheinen die Gegensätze unüberwindbar. Oder gelingt es ihr, dieser so lebendigen Frau, die gern Tacheles redet, den in ihre Vor-Urteile einzementierten Trauernden die Augen zu öffnen?
Die Arte/BR-Koproduktion „Querschuss“ von Nicole Weegmann („Alice“) nach dem Drehbuch von Esther Bernstorff („4 Könige“) erzählt von einer tragischen Ausnahmesituation, durch die eine Familie, in ihren Grundfesten erschüttert zu werden droht. Warum hat sich der alte Mann das Leben genommen? War er einsam? Oder wollte er einem möglicherweise unwürdigen Lebensabend entfliehen? Und weshalb hat keiner etwas gemerkt von seinen Depressionen? Diese Fragen quälen die Hinterbliebenen. Dabei war die Wohnsituation ideal: die Familie im Haus und der Großvater nebenan, noch eigenständig lebend in den Räumen seiner ehemaligen Praxis. War das Arrangement möglicherweise doch nicht so perfekt? Selbstzweifel und unterschwellige Kritik vom eigenen Sohn („Er hat das Haus geliebt, Papi“) und der Schwester („Er muss so einsam gewesen sein“) setzen besonders Andreas unter Druck. Dass er sich an keinen schönen Moment mit seinem Vater erinnert, kommt erschwerend hinzu. Der gestandene Mann zieht sich in die Schmollecke zurück und kommt nur kurzzeitig mit Vorwürfen aus der Deckung („Am Ende war ich immer der Versager“).
Nach diversen Eskalationen beruhigt sich die Situation vorübergehend. Der Vater versucht, die unattraktive Opferrolle abzulegen. Tante Bernadette unterhält mit frivolen Anekdoten – und weiß mehr über den Großvater als alle seine nächsten Verwandten. Und auch Clemens und sein Vater kommen sich nach einem heftigen Streit wieder näher, sprechen sich aus, so gut es eben für diese beiden verschlossenen Männer geht. Und mehr noch: Die den Großvater würdigenden Worte des Enkels könnten Andreas vielleicht sogar mit dem als gefühlskalt empfundenen Vater über den Tod hinaus versöhnen. Darin spiegelt sich nicht zuletzt die überragende lebensbejahende Qualität dieser Geschichte(n): Jeder hat ein völlig anderes Bild von dem Toten, weil er andere Erfahrungen mit ihm gemacht hat. Und alles, auch der Selbstmord, triggert Unterschiedliches an, erweckt Verdrängtes zum Leben. Bernstorff und Weegmann, die schon einmal bei dem ebenso herausragenden Familien-Drama „Ein Teil von uns“ zusammengearbeitet haben, schaffen es, jede Figur plausibel zu machen – als Mensch mit all seinen Stärken und Schwächen. Selbst einer, der eifersüchtig auf den eigenen Sohn ist („Ganz der Großvater: ein Gott in Weiß!“), sich trotzig mit ihm um einen Kindersessel streitet, eine wunderbare Metapher für den Konkurrenzkampf um die Gunst des Toten, hat die Sympathien des Zuschauers, spätestens, nachdem sich dieser mit seinem inneren Kind versöhnt hat. Schön auch, dass in den 90 Minuten nicht alles ausgesprochen wird und sich die Zuschauer einiges selbst erschließen können. Um die Beziehungen im Film in ihrer Komplexität zu erfassen, dabei können psychologische Sensibilität und eigene Erfahrungen nicht schaden. So lässt sich erkennen, weshalb Großvater, Enkelsohn und Schwiegertochter eine große Affinität zueinander haben. Und auch für die enge Bindung zwischen Andreas und seiner kleinen nachtwandelnden Tochter Stella, ein Problemkind wie einst Ulrike, die mit „Sternchen“ ebenfalls sehr innig ist, gibt es viele gute (Mentalitäts-)Gründe.
In „Querschuss“ stimmen die Charaktere, die Konstellationen, die in all ihren möglichen Varianten abwechslungsreich ausgespielt werden (bis hin zu „ehrlichen“ Soloszenen, in denen sich die Schleusen öffnen) und die kommunikativen Dynamiken, wie man sie nicht nur bei Familienzusammenkünften findet, bis ins Detail. „Wie geht’s dir?“, fragt der Vater. „Ganz gut – und dir“, antwortet Stella, die bei der Geburt ein Frühchen war und jetzt viel zu früh in der problematischen Welt der Erwachsenen lebt und – dem „Sternchen“ zum Trotz – kein richtiges Kind mehr ist. Schlimm, mit 60, nach dem Tod des Vaters, sich von ihm immer noch nicht respektiert zu fühlen. Und so ist sie verständlich, die Wut auf den protestantischen Habitus, „diese legendäre Bescheidenheit“ des Vaters und die Wut auf die bevorzugte Schwester: Immer nur Verantwortung übernehmen, sich abstrampeln! Dass Andreas das „Modell“ für seine Familie übernommen hat, denn auch hier ist es sein Sohn, der stets Rücksicht nehmen muss, während sich alles um Stella dreht(e), das erkennt der Zuschauer; offen thematisiert wird es erfreulicherweise nicht. Beziehungsmuster werden in Familien oft weitergegeben. Das ist eine Binsenweisheit. Wie sie allerdings von Bernstorff & Co in diesem Film in vielen kleinen Geschichten lebendig und alltagsnah erzählt wird, das ist beste Familiendrama-Kunst.
Auch die Bilder, die gefunden werden, erweitern und erfrischen die Erzählung. Nach dem Schockerlebnis kuscheln sich Vater, Mutter und die kleine Tochter zusammen. Wenig später schwimmt die bisher so aufgeräumt wirkende Mutter stimmungsvoll im See, allein, das ist ihre Art, den Tod des Schwiegervaters zu betrauern. Warum sie das tut, wird später in einem Nebensatz erwähnt: Sie ist regelmäßig mit dem alten Mann im See geschwommen. Ein Beispiel dafür, dass in „Querschuss“ auch narrativ-dramaturgisch alles stimmt. Perfekt auch die Haupt-Location, in der sich der Zustand der Familie spiegelt. Der lieblose Garten bringt zum Ausdruck, dass in dieser Familie Zeit ein kostbares Gut ist. Und Andreas Elternhaus, ein schön hässlicher Funktions-Bau aus den 60er Jahren, dürfte kaum den ästhetischen Ansprüchen von Architektin Bibi genügen. Man hat sich hier die letzten zehn Jahre eingerichtet. Vielleicht hat sich der Großvater ja was dabei gedacht (und es war keine Benachteiligung des Sohns, wie dieser annimmt), ihm nicht das Haus zu vererben. Der feinfühlige Schluss mit Cluesos „Alles zu seiner Zeit“ und einer stillen, zärtlichen Interaktion der Blicke und Berührungen lässt hoffen, dass die Familie zu einer achtsamen Normalität zurückkehrt.