Ein Selbstbezichtiger rückt Hanns von Meuffels (Matthias Brandt) auf die Pelle. Der ehemalige Architekt Jens Baumann (Karl Markovics) gesteht einen Totschlag, den er vor zehn Jahren begangen haben will. Dass er erst jetzt die Tat gesteht, hängt offensichtlich mit dem Selbstmord des Mannes zusammen, der – Baumann zufolge – damals unschuldig verurteilt wurde: der Dorfdepp Tim Haffling (Sebastian Griegel). Sein Suizid brachte das Fass offenbar zum Überlaufen. Baumann, vereinsamt und verzweifelt, kann – wie er sagt – mit seiner ungesühnten Schuld nicht länger leben. „Da ist diese Stimme, die sagt, du musst dich stellen, du musst die Wahrheit sagen, du musst bestraft werden“, versucht der Mann, den zunächst äußerst widerwilligen Kommissar zu überzeugen. Doch dieser hält Baumann für nicht zurechnungsfähig und tut ihn als verwirrten Spinner ab. Der lässt daraufhin nicht locker, nennt den Ort, an dem er die Leiche vergraben haben will, verstrickt sich aber weiterhin in seinen Schilderungen des Tathergangs. Erst als er vermeintliches Täterwissen preisgibt, wird von Meuffels hellhörig und begibt sich zur Befragung in den Heimatort der Toten, der 16jährigen Miriam Springer (Lola Dockhorn). Es ist ein schwerer Gang für den Kommissar, denn er befürchtet, einen Ermittlungsfehler begangen und einen Unschuldigen hinter Gitter gebracht zu haben. Und damit würde er indirekt auch die Schuld tragen an Hafflingers Tod.
Foto: BR / Kerstin Stelter
Der von Matthias Brandt auch zum zehnten Mal wieder eindrucksvoll verkörperte Hanns von Meuffels stand selten so neben sich wie in Marco Kreuzpaintners „Polizeiruf 110 – Und vergib uns unsere Schuld“. Seine Nerven liegen blank. Stille Selbstvorwürfe quälen ihn, in mehreren Situationen verliert er die Kontrolle über sich: Er brüllt, er säuft, er schämt sich. In einer Szene, in der die schwer traumatisierte Mutter der Toten und der mutmaßliche Mörder unglückseligerweise im Dorf aufeinandertreffen, beide unwissend, wen sie da vor sich haben, ist dem sonst meist überaus besonnenen Kommissar die gewohnte Noblesse völlig abhandengekommen. Zur Verzweiflung haben ihn seine Fälle schon mehrfach getrieben. Der Schuld der Anderen konnte er bislang mit der Haltung des auf- und abgeklärten Mannes von Welt oder mit dem Gestus christlicher Nächstenliebe begegnen. Seiner eigenen Schuld steht er hilfloser gegenüber. Es reicht die Ahnung, die Mitschuld zu tragen am Tod eines Menschen. Und Hanns von Meuffels ist verletzlich. Wie sein „Kontrahent“, der ihn antreiben muss, dass er endlich seiner verdienten Strafe zugeführt werde, steht auch er allein da, hat niemanden, mit dem er den alten, womöglich vergeigten Fall bereden kann. Staatsanwalt Rösners Beschwichtigungen („Wir haben alles richtig gemacht“) sind ihm keine Hilfe. Und so macht er sich am Ende selbst mit dem Spaten an die Arbeit, die Geschichte freizuschaufeln.
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Wer Wohlfühlkrimis mag, wer Kommissariate mit Ritualcharakter bevorzugt und sich am Sonntag nach der „Tagesschau“ auf Mörderjagd begeben will, für den war Matthias Brandts Hanns von Meuffels schon immer ein unliebsamer Grenzgänger des klassischen Kriminalfilms. Kinoregisseur Marco Kreuzpaintner („Sommersturm“) und das Grimme-Preis-gekrönte Autorenduo Alexander Buresch / Matthias Pacht („Das wahre Leben“) haben wie zuletzt der herausragende „Polizeiruf 110 – Kreise“ von Christian Petzold das Genre noch ein bisschen weiter in Richtung Arthaus-Drama ausgelotet: „Und vergib uns unsere Schuld“ ist ein ästhetischer Diskurs über die Schuld inklusive weltanschaulich-religiöser Schlüsselbegriffe wie Sünde, Reue und Vergebung. „Sich die eigene Schuld einzugestehen, ist der erste Schritt zur Vergebung“, sagt der sich als Mörder Bezichtigende in Richtung Hanns von Meuffels. Der brummelt, „Ich hab mir nichts zu vergeben“, wohl wissend, dass er – falls sein Gegenüber tatsächlich für den Tod des Mädchens verantwortlich ist – den schweren Gang nach Canossa antreten muss. Dieser „Polizeiruf“ ist eine moralische Erzählung, sie transzendiert quasi die Elemente des Krimis ins Philosophisch-Existentielle. Damit kommt dieser Fernsehfilm dem nahe, was auch Krzysztof Kieślowski einst in seinem zehnteiligen „Dekalog“ (auch eine TV-Produktion) erzählte. Wer Krimidramen macht, spricht gern von „menschlichen Abgründen“. Karl Markovics erweckt diesen Begriff zum Leben, er gibt der tiefen Verzweiflung, aber auch dem Grauen ein Gesicht. Und der Kommissar kann ihn ein Stück weit verstehen, wie umgekehrt der mutmaßliche Totschläger weiß, was in von Meuffels vorgeht. Dass der an sich eher reservierte Kommissar in seinen Fällen stets einen Seelenverwandten findet, dass sich ihm eine Projektionsfläche auftut oder er einem Menschen sehr nahe kommt, das schreibt sich auch im zehnten Beitrag der Top-Reihe fort.
Foto: BR / Kerstin Stelter
Eine solche Geschichte ist nicht mit gehobener Reihenkrimi-Fernsehästhetik beizukommen. Das war dem Regisseur und der BR-Redakteurin Cornelia Ackers offenbar von Anfang an klar. „Sie hat mich sogar dazu angetrieben, noch mehr auf die von uns entwickelte unkonventionelle Kamera-, Schnitt- und Erzählform zu vertrauen“, beschreibt Marco Kreuzpaintner, der anfangs durchaus Dünkel hegte gegenüber dem Fernsehen, die große Unterstützung, die er von Senderseite genoss. Es sind in erster Linie die erzählten Rückblenden, die dem Film ein Stück weit seine narrative Kraft geben; sie sind nicht aus der Not geboren, sondern vom Willen beflügelt, den Flashbacks eine gewisse Mehrdeutigkeit zu geben – kleine Lügen inklusive. Es ist schon außergewöhnlich, wenn ein Toter zu einer der Krimihauptfiguren wird. Der dramaturgischen Exklusivität, das ausschnitthafte Erzählen, das Arthaus-Filmen häufig eigen ist, entspricht die Elaboriertheit der Filmsprache. Es war ein Indizienprozess, der vor Jahren den seltsamen, jungen Mann zum Täter stempelte, entsprechend wirkt die Montage des Films in den ersten Minuten geradezu wie eine Sammlung von Bruchstücken: Die Realität als eine Summe aus Detailaufnahmen. Auch Farb- und Raumgestaltung setzen auf dezente Verfremdung. Matthias Brandt im Trenchcoat sieht anfangs aus, wie aus einem Melville-Gangsterfilm entsprungen (da fehlt nur der coole Hut).
Erst mit dem zunehmenden Einblick in das, was vor Jahren passiert ist, in diesem Dorf, im Wald am See, setzt Bildgestalter Philipp Haberlandt („Deutschland 83“) gelegentlich auf Totalen mit Überblickscharakter. Auch das Damals und Heute ist visuell sehr gegensätzlich gestaltet. Der Zeitpunkt der Tat, das war im Juni 2006, der Beginn des deutschen Sommermärchens: Die Sonne strahlt! In den Sommertagen der Wiederaufnahme des Falls dagegen herrscht Katastrophenwetter: Die warmen Töne sind förmlich vom Dauerregen aus den Bildern gewaschen. Der Regen spiegelt von Meuffels Misere, ähnlich wie die Heintje-Lieder, die einst Wegbegleiter von Haffling waren; zu den Klängen von „Ich bau dir ein Schloss“ legt sich dieser in der ersten Szene den Strick um den Hals. Später wird auch von Meuffels mit einem Heintje-Song konfrontiert. Kreuzpaintner: „So bleibt Hafflings unglücklicher Tod für Meuffels gegenwärtig und die Schuldfrage ständig akustisch präsent.“ Die Interaktionen im Film halten sich in Grenzen; es gibt einige Ein-Personen- und zahlreiche Zwei-Personen-Szenen; in ihnen übernimmt die Filmästhetik einen entscheidenden Part der Erzählung. Das schließt aber nicht aus, dass Kreuzpaintner seinen Ausnahmeschauspielern eine Bühne bereitet. Und so ist der „Polizeiruf 110 – Und vergib uns unsere Schuld“ nicht nur ein Stück selten gesehener Fernsehkunst, sondern auch ganz großes Schauspieler-TV.