Nächtlicher Großeinsatz der Feuerwehr. Beim Brandanschlag auf seine Villa kommt der stadtbekannte René Ottmann (Thomas Loibl) mit dem Schrecken davon. Wäre er nicht wach gewesen, hätte er nicht überlebt. Dennoch macht der Bauunternehmer, der unlängst die Firma seines Ex-Kompagnons geschluckt, nur wenige Mitarbeiter übernommen und deshalb jede Menge Feinde hat, nicht den Eindruck eines Opfers. Ottmann ist ein Macher, er hat keine Angst. Oder schwingt da Fatalismus mit? Der Mann hat vor fünf Jahren seine Frau auf tragische Weise verloren; sie waren beide in einer Lawine verschüttet; er hat überlebt, sie nicht. Einer der nicht übernommenen Mitarbeiter ist Uwe Schneider (David Korbmann): Der rastet aus und versetzt alsbald die Kommissare Doreen Brasch (Claudia Michelsen) und Dirk Köhler (Matthias Matschke) in erhöhte Alarmbereitschaft. Schneider ist flüchtig, nachdem er Köhler überwältigt und ihm seine Dienstwaffe abgenommen hat. Seltsam verwickelt in den Fall sind aber auch Ottmanns Schwager, der Juwelier Axel Dietrich (Sebastian Rudolph), Schwägerin Susan (Ursina Lardi), die Schwester der toten Frau des Bauunternehmers, und ihr gemeinsamer Teenager-Sohn Carsten (Bruno Alexander), dem sein Onkel näher zu stehen scheint als seine Eltern. Gegen diese Familienverhältnisse ist die nach wie vor angespannte Situation auf dem Kommissariat noch gold: Kriminalrat Uwe Lemp (Felix Vörtler) hat sich mit Niklas Wilke (Steven Scharf) Verstärkung ins Team geholt. Der Mann ist Kriminal-Psychologe – und er soll für ein besseres Betriebsklima und bessere Kommunikation sorgen.
Foto: NDR / Conny Klein
Die Idee, das Magdeburger „Polizeiruf“-Trio um einen Polizeipsychologen zu erweitern, ist für die Entwicklung des MDR-Reihen-Ablegers das Beste, was den Verantwortlichen einfallen konnte. Denn Brasch hat offensichtlich ihr Mutter-Sohn-Trauma tief in sich vergraben, außerdem sind ihre Abgrenzungsmanie und ihre Fluchtwesen-Mentalität tatsächlich kontraproduktiv für die Ermittlungsarbeit. Auch Köhler hat schwerwiegende Ego-Probleme: Der „brave Sohn“ findet nur schwer Widerworte und kann seinen Willen nicht durchsetzen. „Frau Brasch erinnert mich an jemanden“, sagt er dem Kriminalpsychologen, und man darf vermuten, diese(r) Jemand ist seine Mutter. Während er bereit ist, sich auf die Supervisionen mit Wilke einzulassen, stellt Brasch – für ihre Verhältnisse – charmant auf Durchzug („So kriegen Sie mich nicht!“). Sie braucht keinen Psychologen, wenn überhaupt, dann braucht sie ab und zu einen Mann, mit dem sie nicht über Familienaufstellungen reden muss, sondern der den Mund aufmacht für einen intensiven Kuss. Diese Frau nimmt sich, was sie braucht, jedenfalls nach dem fünften Wodka. Köhlers Art zu kommunizieren ist völlig anders. Mit Hilfe des Psychologen jedenfalls hat Autor Josef Rusnak in „Starke Schultern“ eine anschauliche Metapher gefunden. Wird es einem bei einem Gespräch mit dem Kollegen zu heiß, fragt der sehr umsichtige Chef Lemp, ob man das Fenster öffnen könne. Brasch würde das Fenster wortlos aufmachen, während Kollege Köhler sagt: „Es ist aber heiß hier“.
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Auch wenn die erste Hälfte des Films mit der überaus stimmigen und unterhaltsamen beruflichen Beziehungskiste der Kommissare gerade so hinwegsehen lässt über das konventionelle Krimi-Geplänkel – der Quasi-Neustart des Films nach 45 Minuten macht den Weg frei für eine Vielzahl bizarrer Motive, und die Psychologie gewinnt nun auch im Krimi-Plot die Oberhand. Dennoch kann man den Möglichkeiten nachtrauern, die diese vielschichtige „Beziehungsgeschichte“ mit diesen überragenden Schauspielern (Michelsen, Matschke, Vörtler, Loibl, Lardi, Rudolph, allesamt auch markante Gesichter) besitzt, wenn sie nicht das Whodunit-Spielchen spielen müsste. Und es ist tatsächlich nur ein Spielchen, denn das geradezu pathologische Abhängigkeitsgeflecht ist – trotz der krimiüblichen Ablenkungs-Manöver – kurz nach besagtem Wendepunkt für den aufmerksamen Zuschauer mehr als nur zu erahnen, obgleich die konkreten Hintergründe erst am Ende erklärt werden. Wenn aber der Whodunit nur mäßig funktioniert, wäre es da nicht gewinnender gewesen, die Geschichte dieser Familie offen zu erzählen? Was hätte da nicht alles entstehen können? Ein krankhafter Beziehungsdiskurs, den man mit der prekären Kripo-Konstellation hätte kurzschließen können. Allein schon die „Ein-Mann-erschafft-sich-sein-Weib“-Variation à la Hitchcocks „Vertigo“ hätte einem mit Loibl und Lardi den Atem rauben können. Da hätte man sich dann auch das ganze gutgemeinte, ablenkende Kleinklein um Schwarzarbeit, illegale Beschäftigte und einen abgeschobenen Bruder sparen können. Sein Herz für Soziales hätte sich der MDR lieber für einen anderen Film aufgehoben und wäre hier besser konzentriert ans psychologisch Eingemachte gegangen. Dazu hätte es aber eines Ausnahme-Autors bedurft. So ist der „Polizeiruf – Starke Schultern“ nur leckere Hausmannskost geworden: Gute deutsche Küche zwar, aber die exzellenten, frischen Zutaten sind da eben doch ein bisschen verschenkt.
Foto: NDR / Conny Klein
Vielleicht liegt es ja auch am Standort. Magdeburg ist nun mal nicht Berlin. Aber diese abgefahrene Psycho-Geschichte etwas abgefahrener zu erzählen, wäre ja durchaus möglich gewesen – gerade bei dieser Häufung von Schicksalsschlägen in der Krimi-Handlung und ihrer Backstory: Pleite, Schlaganfall, Lawinentod, Raubüberfall! Schreit so viel Tragik, so viel Unglück und Leid, nicht auch dramaturgisch und filmästhetisch nach einer extremeren Form als diesem gängigen Krimi-Pseudo-Realismuskonzept? Man kann sich nur wiederholen: Claudia Michelsen und Matthias Matschke sind auch hier große Klasse; in ihrem dritten gemeinsamen „Polizeiruf“ funktioniert die Nicht-Kommunikation ihres Duos so gut, so nuan-ciert wie noch nie. Mit den beiden kann eigentlich nichts (völlig) schiefgehen. Bei ihnen auf klassische, Drama orientierte Ermittlerkrimis zu setzen, ist von daher natürlich nicht verkehrt. „Starke Schultern“ ist ja trotz Kritik (auf hohem Niveau) durchaus ein sehr sehenswerter Film. An einen ausgezeichneten Borowski-„Tatort“ beispielsweise reicht er aber nicht heran; an den erinnert man sich noch nach Jahren. Bei diesem „Polizeiruf 110“ aber wird nicht mal ein Kenner in einem Jahr sagen: „Das war doch dieser schräge Film mit dem ‚Vertigo’-Motiv.“ Wirklich schade, da wäre noch viel mehr drin’ gewesen! (Text-Stand: 25.2.2018)