Ein Dorf am Rande der Alpen. Kommissarsassistentin Anna Burnhauser ist außer sich. „Anna, der Xaver wird dein Schwager“, prustet ihr vor Freude die ältere Schwester am Telefon ins Ohr. Ausgerechnet Xaver, der vor zwölf Jahren des Mordes angeklagt wurde und in letzter Sekunde von seinem Schwager ein Alibi bekam! Das Dorf war seither gespalten. Jetzt haben nicht nur die Burnhausers die Hoffnung, dass die Hochzeit ein Neuanfang sein könnte. „Die alten Wunden sind verheilt“, beschwört der Vater der Braut die Dorfgemeinschaft während der Verlobung. Doch dann platzt die Schwester der Braut in die Feier: „Der Xaver war’s – der hat den Toni derschlagen.“ Und vorbei ist es wieder mit dem Dorffrieden. Das Pikanteste an dem alten Fall, den Anna im Kurzschlussverfahren mittels DNA-Analyse ohne Absprache mit ihrem Chef mal eben wieder aufgerollt hat, ist die Rechtslage: „Nicht zweimal in der gleichen Sache“. Es sei denn, der Mörder gesteht seine Tat. Der Xaver bleibt also auf freiem Fuß. Hanns von Meuffels staucht seine Assistentin zwar zusammen, will aber dennoch dran bleiben an den Dörflern, die mit Selbstjustiz drohen, falls der Täter nicht gesteht. Für den Preußen wird es eine lange bayerische Nacht, in der so manches Drama ans Licht kommt.
Foto: BR / Jürgen Olczyk
Zwitschern auch gelegentlich die Vögel im schönen Bayernland, es brodelt 90 Minuten in diesem wuchtigen Krimidrama im dörflichen Voralpenambiente. Es wird gebrüllt, geweint, geschlagen, der Kommissar versteht anfangs kaum etwas, denn seine „Übersetzerin“ wälzt in München die Akten des Mordprozesses von einst. Derweil gibt der Herr Baron den Schimanski, flucht viel und ist nah dran, die Contenance zu verlieren bei diesem Fall, der ihn mit einer Wesensart und Moral konfrontiert, die ihm vollkommen fremd ist. Mit seinen Psychospielchen von wegen „Druck aufbauen“ kommt er bei Männern, die tun, was sie tun müssen, nicht weiter. „Sie wird das Kind nicht behalten“, suggeriert von Meuffels dem Mörder, „dieser Schlag, das war kein Affekt, kein Impuls, der war glashart und genau überlegt.“ Eine Flasche fliegt, eine Maultrommel zirpt, Fliegen summen – das Licht geht aus.
Regisseur Hans Steinbichler über Heimat und Landleben:
„Wenn man, so wie ich, vom Dorf kommt, nimmt man das Leben auf dem Land erst mal als Hölle wahr. Wenn man dann aber weggeht, wird das Dorf doch wieder zum Sehnsuchtsort. Ich habe beides versucht zu vereinen. Das, was man sieht, ist die Idylle und das, was dahinter droht, ist die Hölle… In ‚Hierankl’ habe ich Heimat als große Künstlichkeit dargestellt, als Kulisse, vor der die Menschen wie im Theater spielen. Im ‚Polizeiruf’ dagegen zeige ich die Heimat sehr nah, sehr authentisch und unkünstlich.“
Foto: BR / Jürgen Olczyk
Dieser dritte „Polizeiruf 110“ mit Matthias Brandt und Anna Maria Sturm besitzt eine unbeschreibliche Intensität. Während sich draußen der Mob sammelt, spielen sich drinnen in den Stuben die Dramen ab. Und immer wieder flackern die Bilder aus der Vergangenheit auf. Licht und Dunkel sind die sinnlichen Orientierungsmarken in diesem Krimidrama der nächtlichen Schatten und der sonnigen Sommerfrische – und sie sind die Metaphern für die Auflösung dieses außergewöhnlichen Falls. Bei „Schuld“ sucht man vergebens nach einer Entsprechung in irgendeinem Genre: Krimi? Dorfdrama? Heimatfilm? Man muss weder Cinéast noch „Tatort“-Kenner sein, um von diesem zutiefst menschlichen und ästhetisch brillanten Film „mitgenommen“ zu werden. Und doch ist er große Filmkunst, großes Fernsehen: eine vielschichtige, geradlinige Exposition, großartig, wie die Vorgeschichte etabliert wird; ein konzentrierter, kompakter Hauptteil und ein dichtes, fein akzentuiertes Finale. Im Zentrum der Wahrnehmung ein Spiel zwischen Aktion und Stille – eine Erzählform, die hellhörig, sensibel macht. Und immer wieder gibt es diese Verzögerungsmomente und diesen sezierenden Blick: plötzlich steht die Handlung still, der Moment erscheint wie eingefroren und ist zum Greifen nah – und der Atem beim Zuschauen gerät ins Stocken – unerträglich die Pistole am Kinn, erlösend, wenn eine Hand die andere liebevoll umfasst.
In Hans Steinbichlers Film nach dem Drehbuch von Stefan Kolditz brodelt es von Anfang an und es zieht einen förmlich hinein in die Ursuppe der bayerischen Lebensart. Da passt es ins Bild, dass das Opfer vor zwölf Jahren mit einer Bierflasche erschlagen wurde. „Freibier“, ruft noch der Burnhauser Papa, bevor die Tochter dem Dorf den Todesstoß versetzt. Mit einem solchen Film lässt sich die Inflation der Krimisendeplätze und Mord-und-Todschlag-Formate ertragen. Hier zählt kein Etikett. Hier zählt nur Qualität – dramaturgisch, konzeptionell, visuell. Und die Schauspieler sind wie für dieses Biotop bestellt. Jedes Gesicht passt sich nahtlos in die Ikonographie des Films ein – nur Matthias Brandts von Meuffels wirkt wie ein gewollter Fremdkörper, wie ein Bote aus einer anderen Welt, der deutlich macht, dass es noch etwas anderes gibt da draußen: eine andere Moral, eine andere Kultur, einen anderen Stil.