Die schwangere Larissa Böhler (Paraschiva Dragus) will von der Stadtbrücke in Frankfurt/Oder in den Tod springen. Absperrband, eine Gruppe Schaulustiger, ein Polizeiwagen: Dennoch tritt ein junger Mann („Du kannst mich Elias nennen“) unbehelligt heran, verwickelt Larissa in ein Gespräch und hält sie schließlich vom Selbstmord ab. Sie müsse etwas Besonderes sein, „weil du die Mutter von dem Kind sein darfst“, sagt Elias, der eigentlich Jonas Fleischauer (Tom Gronau) heißt. Nach einem kurzen Zeitsprung von einer Woche scheint sich der geheimnisvolle Junge als religiöser Fanatiker und rücksichtsloser Abtreibungsgegner zu entpuppen. Er schleicht sich unbemerkt ins Krankenhaus, in dem Larissa bereits auf dem OP-Tisch liegt, fesselt ihre Hände, platziert sein Smartphone, um seine Tat zu filmen, schnappt sich ein Skalpell und schneidet der jungen Frau, die bei vollem Bewusstsein ist, das Kind aus dem Bauch. Das Video stellt er später ins Netz. „Ihr seid behindert“, ruft er seinem Publikum zu. „Dieses Kind wird euch gesund machen. Es ist Gottes letztes Geschenk an uns.“ Das Baby, bei dem Trisomie 18 diagnostiziert worden war, ist kerngesund. Es hat einen Leberfleck hinter dem Ohr, wie es ein Engel Jonas im Traum vorausgesagt hatte. Auch Larissa überlebt – vorerst.
Wunder über Wunder also in einem wahren Horrorszenario. Natürlich ist es vollkommen unglaubwürdig, dass ein Fremder in ein Krankenhaus spaziert, mühelos in einen OP-Saal vordringt und ungestört einen derartigen Eingriff vornimmt. Diese Konstruktion irritiert auch in einem Film, in der unerklärliche Phänomene das übliche Beweise sammeln in einer Krimi-Reihe konterkarieren – was durchaus seinen Reiz hat. Regisseur Rainer Kaufmann zeigt die schockierende Tat nicht wirklich und lässt später Kommissarin Olga Lenski (Maria Simon) im Netz einen Blick auf ein medizinisches Kaiserschnitt-Schulungsvideo werfen. Insofern wäre es übertrieben, die Sache zu skandalisieren, auch wenn das Szenario für einen Sonntagabend-Krimi sicherlich grenzwertig ist. Abgesehen davon kann man die ganze Geschichte für grandiosen Quatsch halten: Ein junger Mann hält sich für den Propheten Elias? Und glaubt daran, dem Retter der Welt den Weg ebnen zu müssen? Allerdings können solche extremen Außenseiter-Figuren gerade reizvoll sein. Zudem prallen im „Polizeiruf“ des RBB, der im deutsch-polnischen Grenzgebiet – und häufig in deutsch-polnischen Familien – spielt, oft Gegensätze aufeinander. So auch in diesem Film, dessen Thema angesichts der tiefen Verwurzelung Polens im Katholizismus an diesem „Polizeiruf“-Standort gut aufgehoben ist.
Allerdings verhält es sich mit „Heilig sollt ihr sein“ ein bisschen wie mit der Wand und dem Schreibtisch in Jonas‘ Zimmer, die mit einer großen Menge Papierschnipseln, Bibel-Zitaten und religiösen Bildern gepflastert sind: Die Geschichte ähnelt einer Zettelwirtschaft, die nicht zu einem harmonischen Ganzen werden will und mit allerlei unglaubwürdigen Konstruktionen zusammen gehalten wird. Als Jonas ein Kind war, hatten sich seine Eltern getrennt. Sein (abwesender) deutscher Vater glaubt, Jonas habe ihn von einer schweren Krankheit geheilt. So steht es in einem Brief, den Kommissar Raczek (Lucas Gregorowicz) findet. Jonas‘ polnische, tief religiöse Mutter wiederum lässt ihren Sohn zweimal wöchentlich von einem Priester exorzieren, um die Dämonen auszutreiben. Ihre Erklärung („Das Böse hat viele Gesichter“) bleibt ebenso dürftig wie die auffallend bescheidene Inszenierung des Rituals – möglicherweise um zu erzählen, dass Exorzismus in Polen etwas beinahe Alltägliches ist. Aber soll man ernsthaft glauben, dass Jonas, mittlerweile ein junger Mann, seit drei Jahren zweimal wöchentlich brav zur Dämonen-Austreibung marschiert wie andere zum Fußball-Training? Die Figur mag in ihrer Radikalität interessant sein, Darsteller Tom Gronau legt sich auch mächtig ins Zeug, aber unglaubwürdig bleibt die zentrale Geschichte dieses Krimis doch.
Von der destruktiven Kraft des Glaubens handeln auch die weiteren Handlungsstränge: Da sind Larissas Eltern, die von der Schwangerschaft ihrer einzigen Tochter nach einer angeblich „unbefleckten Empfängnis“ verstört waren und nun nach Jonas‘ Tat um das Leben Larissas bangen. Da ist Agnieszka Raczek (Malgorzata Zajaczkowska), die plötzlich bei ihrem Sohn, dem Kommissar mit dem hier besonders passenden Vornamen Adam, vor der Tür steht und glaubt, ihr Darmkrebs sei eine Strafe Gottes. In diesem Mutter-Sohn-Konflikt werden existenzielle Fragen noch am überzeugendsten thematisiert. Adam Raczek, der nach der Trennung von seiner Frau zwischen nicht ausgeräumten Kartons in einer neuen Wohnung haust, ist durchaus ein gläubiger Mensch, aber gerade schlecht drauf. Dass sich die sterbenskranke Mutter nicht helfen lassen will, überfordert ihn. Das führt wiederum zu Spannungen mit Kollegin Lenski, die mit Religion eher wenig anfangen kann und mit der Raczek über seine Probleme nicht reden kann oder will. So kämpft jeder für sich allein. Während sich Lenski fassungs- und verständnislos durch die fromme Welt bewegt und Maria Simon dabei ein wenig verloren wirkt, ist Raczek der Getriebene, dessen Glaube durch die Krankheit der Mutter auf die Probe gestellt wird.
Auf die Spitze getrieben ist nicht nur der Anfang, sondern auch das Ende. Dann wird auch klar, warum zuvor ab und zu ein weiblicher Junkie (Kyra Sophia Kahre) ins Bild rückte, der sich vor einer mit einem schwarzen Engel bemalten Wohnungswand das Wort „Liebe“ auf die Hand gemalt hatte. „Was aus Liebe getan wird, geschieht immer jenseits von Gut und Böse“: Dieses Nietzsche-Zitat findet sich wiederum auf einem Zettel in Jonas‘ Zimmer. „Warum willst du noch ein Leben zerstören?“ wird der schwarze Engel schließlich gefragt. „Weil ich’s kann.“ Die verschiedenen Anspielungen auf Religion, Philosophie und Moral, auf Geburt, Erlösung und Tod kann man anregend finden. Aber eine Geiselnahme mit einer Zahnbürste wirkt letztlich doch unfreiwillig komisch. (Text-Stand: 17.4.2020)