Nichts geht mehr im Leben von Arne Kreuz. Der narzisstisch gestörte Träumer versucht ein letztes Mal, seine Ehefrau zur „Vernunft“ zu bringen. Doch die ist gegenüber seinen ewigen Lügen und bodenlosen Glücksversprechungen mittlerweile immun. Sie und den jüngsten Sohn der Familie findet man tags darauf tot – liebevoll aufgebahrt. Arne Kreuz ist flüchtig. Auch von seinen beiden Kindern Nicole und Jonas fehlt jede Spur. Für die Kripo Rostock heißt das Großeinsatz. Polizeihubschrauber suchen die Stadt ab. Bilder über Bilder werden live einge-spielt ins Krisenzentrum, von wo König, Bukow & Co ihre Informationen beziehen. Werden sie Schlimmeres verhindern können? Profilerin König „versteht“ Kreuz immer besser. Kollege Bukow dagegen prescht eher kopflos über die Straßen von Rostock, ahnt er doch, dass seine Frau einen anderen hat. Und dieser Liebhaber sitzt ausgerechnet neben ihm im Polizeiwagen.
Foto: NDR / Christine Schröder
Bewegung ist alles im zehnten „Polizeiruf 110“ mit Anneke Kim Sarnau und Charly Hübner. Da ist zum einen der Aktionismus der Polizei, die vorzugsweise in Mannschaftsstärke auftritt. Und da sind die inneren Antriebskräfte der Episoden-Hauptfigur, die Andreas Schmidt in unnachahmlicher Weise spielt als einen Mann, dem die Verzweiflung über seinen Lebensbankrott ins Gesicht geschrieben ist. Und weil bei dieser Geschichte von dem Familienvater, der glaubt, mit der Tötung seiner Familie, seine Liebsten vor Schlimmerem zu bewahren, in guter Genrefilm-Manier auch die nötige Emotion im Spiel ist, bedarf „Familiensache“ keines Whodunit, um dennoch genügend Suspense aufzubauen. Der Zuschauer weiß ständig mehr. Was leicht ins Redundante kippen könnte, bekommt bei Eoin Moore etwas vom typischen Realismus à la „Polizeiruf“ Rostock: Ermitteln ist eben manchmal so. Die Kommissare hecheln dem Informationsstand des Zuschauers hinterher; aber in diesem Hecheln spiegelt sich die physische Stärke dieses Duos, das über vier Jahre an ihrem Straßenköter-Kumpel-Image systematisch „gearbeitet“ hat. Mit diesen beiden ist man einfach gern unterwegs, selbst wenn einmal – wie auf der Zielgeraden dieses Films – die Spannungskurve eine kleine Durststrecke erlebt, weil sich der Fokus weg von den Charakteren (Kommissare, Täter, mögliche Opfer) hin zur Auflösung richtet und man so als erfahrener Krimi-Zuschauer bereits die möglichen Lösungsvarianten durchspielt. Da ist es wichtig, dass man Protagonisten hat wie Bukow/Hübner und König/Sarnau, die echte Typen sind und denen immer noch ein guter, notfalls die Handlung relativierender Spruch einfällt („die absurdeste Verfolgungsjagd, die ich je erlebt hab“). Oder es bleibt Zeit, die „schief gelegte Verkabelung“ des Antagonisten kurz zu reflektieren. Und dann das Finale, das sich keineswegs mit einer der üblichen Schluss-Konventionen begnügt. Es bleibt genügend Raum für den Zuschauer, für sich ein emotional stimmiges Ende dieses alles in allem doch sehr bewegenden Films zu finden. Aber auch die privaten Geschichten der Ermittler enden spannend, unerwartet und liefern so viel Material für Spekulationen & die nächste Episode.
Foto: NDR / Christine Schröder
Beim NDR-„Polizeiruf 110“ geht es also weiter mit dem horizontalen Erzählen, dem Versuch, das serielle Prinzip dem Reihen-Format einzuverleiben. In „Familiensache“ klappt das besonders gut. Wer nicht (mehr) weiß, dass Bukows Freund und Kollege Thiesler mit dessen Frau eine Affäre hat, wird darauf zu Beginn dezent und durchaus amüsant hingewiesen. Dass damit die private Geschichte des hochimpulsiven, zur Haltlosigkeit neigenden Bukow eine gewisse Nähe zum Fall des geplanten „erweiterten Selbstmords“ bekommt, ist offensichtlich, wird aber nicht – und schon gar nicht symbolhaft – überstrapaziert. Diese Spiegelung verbleibt vielmehr auf der Figurenebene, wo sie von Bukow selbst mehr mit vielsagenden Blicken als mit Worten („Besitzstandswahrung“) verarbeitet wird. Nicht reden, sondern handeln. Auch darin ähnelt der Kommissar Schmidts Familienvater von der traurigen Gestalt. Bukows Privatgeschichte sorgt gelegentlich für atmosphärische Störungen, die die (Selbst-)Mörderjagd emotional doppelt auflädt. Dieser Jubiläumskrimi ist dramaturgisch um einiges komplexer als ein klassisch offen geführter Täter-Krimi. Neben „motion“ ist vor allem auch „emotion“ eine der Triebkräfte dieses „Polizeiruf 110“, der daraus seine besondere Dynamik zieht. Gewalt wird nicht gezeigt. Die Gefühle (hinter der Tat) sind das Herzstück des Films. Die Tötung der Ehefrau wird als Liebesakt inszeniert. Kreuz küsst und tötet.
Realismus ist bei Sarnau/Hübner an authentische Charaktere gebunden und wird nicht mit „Glaubwürdigkeit“ gleichgesetzt (Anhänger dieser Sichtweise könnten bemängeln, dass hier ein Riesen-Soko-Team auffährt, aber für die hysterische Schwester des Täters kein Psychologe zur Verfügung steht). Hier will vielmehr jemand einen psychologisch und genretechnisch abwechslungsreichen Film machen. Im Gegensatz zu Thomas Stillers „Liebeswahn“ versucht Eoin Moore aber, eine durchaus ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Krankheitsbild mit den Gesetzen der (Krimi-)Unterhaltung kurzzuschließen. Das zeigt sich auch in der Szene, in der Bukow erfährt, dass Thiesler mit seiner Frau schläft: Die Situation wird – bei aller spürbaren Tragik – geradezu komödiantisch aufgelöst. In der Folge ist es vor allem der Zeitdruck, der das in Filmen oft so biedere „Wir müssen reden“ ersetzt durch klare Ansagen. Es ist, wie es ist. Und so bezieht Bukow am Ende den für den Urlaub billig erstandenen Wohnwagen, der einst als Puff in Betrieb war. Ein großartiges Schlussbild, eine grandiose Metapher. Liebe, Sex, Einsamkeit, Kälte und die Angst davor, was die Zukunft diesem potenziell Gefährdeten bringen könnte. Charly Hübner formuliert es folgendermaßen: „Bukow weiß, wohin seine Reise ihn jetzt führt, wenn seine Frau ihn nicht zurückholt.“