Sie hat einen Vornamen, den niemand benutzt. Sie hat eine Vergangenheit, die nicht zu ihrer Gegenwart passt. Sie hat ein Motorrad, das sie unübersehbar macht und eine private Seite, von der niemand etwas wissen soll. Brasch, die Kommissarin ohne Vornamen, ist so unbehauen wie der alte Schimanski und ihr Magdeburger Revier heute so rau wie Duisburg vor dreißig Jahren. „Du bist doch nur Bulle geworden, weil du viel zu viel Schiss hattest, Verbrecherin zu werden“, sagt jemand der neuen Kommissarin auf den Kopf zu, der es wissen muss. Auch das hat die Neue aus dem Osten mit dem Alten aus dem Ruhrpott gemeinsam: Beide bewegen sich meist auf dem schmalen Grat zwischen Erfolgsermittler und Disziplinarverfahren. Und so ist auch Anti-Beamtin Brasch mit dem Kollegen Drexler ein penibler Paragraphenreiter zum Aufpasser an die Seite gestellt worden. Tanner lässt grüßen!
Foto: MDR / Julia Terjung
Mit der Auftaktfolge „Der verlorene Sohn“ lösen Claudia Michelsen („Der Turm“) und Sylvester Groth („Romeo“) Jackie Schwarz und Wolfgang Winkler beim MDR-„Polizeiruf 110“ ab. Für das neue, jüngere Duo hat die MDR-Fernsehspielchefin Jana Brandt ihren Sonntagskrimi demonstrativ aus der Schmuseecke von Halle in die sozialen Brennpunkte von Magdeburg verlegt. Die Stadt und die Landesregierung von Sachsen-Anhalt haben dies nicht vollends als Geschenk wahrgenommen, denn „Der verlorene Sohn“ erzählt von dieser Stadt nicht etwa als schmucker Landeshauptstadt, sondern als von Neonazis durchsetztes Gebiet, in dem Jugendliche Asylbewerber mit Gotcha-Pistolen durch die Nacht jagen und das bürgerliche Milieu Geschäftsleute mit multikulturellem Hintergrund in die Insolvenz verdrängen. Wie nah die Fiktion der Realität kommt, erfuhr die Produzentin Britta Hansen bei der Vorbereitung der Dreharbeiten: Für ein angemietetes Sportstudio suchte die Saxonia Media kurz vor Drehbeginn Ersatz, nachdem sich herausgestellt hatte, dass der Studio-Betreiber im rechten Milieu eine bekannte Größe war. „Der Fall könnte“, so Autor und Regisseur Friedemann Fromm, „in vielen deutschen Städten spielen, aber eben auch in Mageburg“.
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Zunächst gibt der Tote im Fitness-Studio der Ermittlerin Brasch viele Rätsel auf: Auf den Afrikaner wurde noch einmal mit einer Kalaschnikow geschossen, nachdem er bereits gestorben war. Wieso hat der Einbrecher nur ein einziges Tütchen „Anabolika“ in seiner Hosentasche, wenn unten im Keller viel mehr davon zu holen gewesen wäre? Und warum war der Familienvater überhaupt dort eingebrochen? Die Spur führt so unübersehbar zum Studiobetreiber Victor Koslow (Merab Ninidze), dass Brasch sich sicher ist, einer Finte aufgesessen zu sein. Anderen Spuren auf eigene Faust nachzugehen, erweist sich für sie freilich schnell als allzu brisant: Zu den jugendlichen Rechtsextremisten, die als Verdächtige infrage kommen, gehört auch Andy, Braschs eigener Sohn. Die Szene, die dem Zuschauer diese private Perspektive offenbart, gehört zu den dichtesten und spektakulärsten Momenten des an Spannung und Emotionen nicht eben armen Films. Die gesamte Backstory der Hauptfigur wird in einem von Claudia Michelsen und Vincent Redetzki fulminant gespielten, verbalen Schlagabtausch vermittelt. Während üblicherweise breit erzählte Nebenhandlungen die Premierenfolgen einer neuen Ermittlerfigur belasten oder die Neuen neuerdings über mehrer Folgen hinweg ein Geheimnis bleiben sollen, erzählen Friedemann und Christoph Fromm hier ganz im Stil ihrer Hauptfigur: Direkt, konsequent, aber nie gefühllos.
Foto: MDR / Julia Terjung
Während Brasch nun ein weiteres, privates Motiv hat, nach dem wahren Täter mit dem Kopf durch die Wand zu fahnden, lässt sich ihr Partner Drexler nur widerwillig auf die trotzige Gangart seiner Kollegin ein. Sylvester Groth spielt seine Figur mit klugen Akzenten als noch ungelüftetes Geheimnis. Vorsichtig ist dieser Ermittler, aber nicht mutlos. Prinzipientreu, aber nicht engstirnig. Autonom, aber nicht illoyal. Die beiden passen so gut und so wenig zusammen wie Schimanski und Tanner – Michelsen und Groth machen aus dem Widerspruch eine glaubwürdige Konstellation, die auf weitere Begegnungen hoffen lässt. Denn spürbar ist dieses Duo von seinen Erfindern auf Dauer angelegt worden. Nicht als ein von Schauspielstars getragenes Feuerwerk, dass binnen weniger Folgen sein dramaturgisches Pulver verschossen hat, will der neue MDR-„Polizeiruf“ beim Publikum punkten, sondern als entwicklungsfähiges Team sollen Claudia Michelsen & Sylvester Groth ihr „Polizeiruf“-Revier sorgsam abstecken und ihre Spielräume erkunden können. In letzter Zeit sah man in den Sonntagskrimireihen der ARD zwar schon spektakulärere Ermittlerkrimis, aber selten eine so nachhaltig formulierte Bucharbeit: Brasch alias Michelsen und Drexler alias Groth sind moderne, aber nicht dekonstruierte Krimifiguren. „Schimanski“ hat auch mal so anfangen.