„Ich frag‘ mich, was er gesehen hat im Augenblick seines Todes.“ Kommissar Vincent Ross (André Kaczmarczyk) liegt im Sand eines Steinbruchs neben einer Leiche und hat noch keine Antwort darauf gefunden, weshalb der Gesichtsausdruck des Toten eine gewisse Zufriedenheit zeigt, obwohl er doch aus nächster Nähe erschossen wurde. Keine 500 Meter vom Tatort entfernt verläuft der Jakobsweg. Auf dem pilgerten nicht nur der Tote, sondern auch zwei junge Frauen, die Karl Rogov (Frank Leo Schröder), ein übereifriger Polizist aus dem Nachbarrevier, bereits vor Ross befragt hat. Alle drei haben etwas mit Insolvenzen zu tun: Der Tote steckte mittendrin in einem demütigenden Verfahren, die krebskranke Caroline Mai (Maj-Britt Klenke) ist die Tochter von Juliane Mai (Imke Büchel), die schwer unter dem Konkurs ihres kleinen Familienbetriebs leidet, und Maria Schick (Anna-Maria Bednarzik) ist die Tochter von Insolvenzverwalter Udo Schick (Bernhard Schir), dessen Mandanten nicht gut auf ihn zu sprechen sind. Besser beleumundet ist hingegen Schuldnerberater Jonathan Hüter (Godehard Giese); er versucht, den Betroffenen, Mut zu machen und Hoffnung zu geben. Hüter ist der Lebenspartner von Schick. Doch die beiden scheinen Geheimnisse voreinander zu haben. Gegen Schick gibt es ein Verfahren wegen Bestechlichkeit im Amt. Hatte der Tote womöglich etwas gegen den Insolvenzverwalter in der Hand, womit er ihn erpresst hat?
Foto: rbb / Volker Roloff
Ganz so einfach liegt der Fall im „Polizeiruf 110 – Der Gott des Bankrotts“ allerdings nicht (obgleich der vortreffliche Titel nicht unpassend ist). Das Alibi jenes Mannes, der sich selbst als „Dreckwegräumer“ bezeichnet und von Bernhard Schir als sachlich-emotionsloser Pragmatiker seines Berufsstandes verkörpert wird, wackelt trotz Hilfestellung seines Lebenspartners erheblich. Und dass dieser Udo Schick – um im Bild zu bleiben – selbst Dreck am Stecken hat, ist anzunehmen. Auch wenn sich retrospektiv betrachtet Vieles anders darstellt: Dieser Whodunit ist auf den ersten Blick einer der simpleren Sorte, was vor allem daran liegt, dass sich die Geschichten im brandenburgischen „Polizeiruf“ an der Realität der Menschen abarbeiten und die Drehbuchautoren, wie in diesem Fall Mike Bäuml, weniger raffinierte Plots schmieden. Und so geht es im ersten Solo für Vincent Ross um Menschen, denen ihr Leben völlig entglitten ist, sie sind verzweifelt, stehen buchstäblich am Abgrund. Mit einer Szene nach 50 Filmminuten, die beim Betrachter geradezu psychophysische Schmerzen verursacht, nimmt der Krimi, der wie meistens bei diesem Reihenableger eine distanzierte Erzählhaltung bevorzugt, endgültig Kurs auf die menschlichen Tragödien. Das sorgt für einen enormen Emotionsschub, dem kaum ein Zuschauer sich wird entziehen können. Und so entwickelt sich der unspektakuläre, brandenburgisch spröde Ermittler-Krimi zu einem erschütternden Drama zur sozialen Lage der Nation.
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Die Sache mit dem Solo stimmt nicht ganz. Denn Ross bekommt nach dem Abgang von Adam Raczek und dem Ausstieg von Lucas Gregorowicz in „Der Gott des Bankrotts“ einen Gast-Ermittler an die Seite gestellt. Karl Rogov, von Frank Leo Schröder ernsthaft und zugleich angenehm locker aus der Hüfte gespielt, ist ein zum Provinz-Polizisten degradierter ehemaliger Kommissar, der es am Ende seiner beruflichen Laufbahn noch einmal wissen will. Für Jungspund Ross ist dieser erfahrene Kollege ein Glücksfall. Und für den Zuschauer ist das Zusammentreffen der beiden eine originelle Begegnung zweier eigenwilliger und doch sehr unterschiedlicher Charaktere, für die in der Ermittlungsroutine von Krimi-Reihen sonst wenig Raum ist. „Warum geht jemand wie Sie eigentlich zur Polizei“, will Rogov wissen. „Weil sich einfach alles ändern muss“, so Ross. „Na, dann viel Spaß dabei.“ Die beiläufigen kleinen Pläusche der beiden sind genauso unspektakulär wie die Inszenierung von Felix Karolus. Beides passt zur Geschichte. Großes Drama, obwohl es doch um sehr viel mehr geht als bei den Polizisten, ist auch von der anderen interessanten männlichen Zweier-Konstellation nicht zu erwarten: Die Spannungen in der Beziehung des Insolvenzverwalters und des Schuldner-Beraters sind dank des konzentrierten Spiels von Bernhard Schir und vor allem von Godehard Giese, der hier die Pause zur Kunstform erhebt, unter die Oberfläche gelegt. Mag eine solche Beziehung, weil sie beruflich den Verdacht der Befangenheit nahelegen könnte, in der Realität wohl nicht zu finden sein, so ist diese doppelte Partnerschaft dramaturgisch von großem Reiz.
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Das Pressedossier legt den Verdacht nahe, bei dem „Polizeiruf – Der König des Bankrotts“ würde es sich in erster Linie um einen Themenfilm über das soziale Schreckgespenst Insolvenz handeln. Viel mehr aber geht es um die seelischen Folgen, die diese ökonomisch bedingten Identitätskrisen für die Schuldner haben können. Der Film lässt sich auch ohne juristisches Fachwissen verstehen. Autor Mike Bäuml, der offenbar viel zum Thema recherchiert hat, verfällt erfreulicherweise nicht darauf, den Zuschauer*innen die Gesetze der Insolvenzabwicklung dialogreich zu erklären. Es dominieren stattdessen emotionale „Botschaften“ und die Zwischentöne menschlicher Interaktionen. Machtstreben und das Spiel mit Schicksalen ist die eine Seite, die andere ein entgegengesetztes Selbst- und Weltbild, das der junge Kommissar in die Kommunikation im Film einbringt. „So, möchte jemand über seine Gefühle sprechen“, beschwichtigt er ironisch, den von den polnischen Kollegen angezettelten Kleinkrieg gegen den „unbefugten“ Ermittler Rogov. „Weil sich alles ändern muss.“ Der Satz ist Ross‘ Programm. Er macht jedoch nicht Tabula Rasa, sondern will den Polizei-Apparat von innen verändern – mit Kajal, urbanem Outfit und einem Lächeln. Am Tatort hat seine schwarze Kluft aus der Ferne – passend zum Pilgermotiv – eine klerikale Note, aus der Nähe betrachtet, dominiert sein genderfluider Habitus. Sein Faible für Psychologie, seine offene, vorurteilsarme und wohlwollende Art und seine positive Ausstrahlung könnten auch den kommenden Geschichten guttun. Diesmal ist es vor allem die Männerfreundschaft, ganz ohne das in Krimis übliche Kompetenzgerangel, die für diesen etwas anderen Kriminalhauptkommissar einnehmen. (Text-Stand: 9.1.2023)