„Das ist nicht meine Frau.“ Gerry Vogt ist sich sicher. Die Frau, die vor ihm liegt, das Gesicht weggeschossen, ist nicht seine Diana. Die Frau, die erschossen wurde, wird als Freundin von Diana Vogt identifiziert. Während Gerry in München Verbrecher jagte, war jene Freundin bei seiner Frau am Staffelsee zu Besuch im unlängst erstandenen Landhaus. Doch der Mörder hat die Falsche erschossen. Diana galt der tödliche Anschlag. Der neue Chef bei der Kripo in München, Hanns von Meuffels, hat gleich einen schweren Fall zu lösen. Fälle, in die Angehörige von Polizisten verwickelt sind, sind immer delikat. Vor allem bei einem wie Frauenheld Gerry. Es stellt sich heraus, dass er eine leidenschaftliche Affäre mit einer höchst obsessiven Frau gehabt hat. Name: Cassandra. Persönliche Daten: unbekannt. Die Indizien gegen die geheimnisvolle Frau erhärten sich. Alles spricht dafür, dass sie noch einmal zuschlagen wird. Diana Vogt wird unter Polizeischutz gestellt – und ihr Mann macht sich mit dem Neuen auf die Jagd nach Cassandra. Dabei denkt von Meuffels in alle Richtungen: „Was ist, wenn Ihr Mann mit dem Mädchen namens Cassandra gemeinsame Sache macht?“
Foto: BR / Walter Wehner
Die Jagd nach Cassandra führt zwischenzeitlich in die Vergangenheit – ein Kindsmord. Ein Transvestit kreuzt die Wege des Kommissars, der mit beiden Fällen zu tun haben könnte. Ein Baudelaire-Gedicht spielt eine Rolle. Die Überreste einer Kinderleiche werden ausgebuddelt. Und zwischendurch bekriegt sich Ehepaar Vogt vor den Augen der Kollegen. Die Nerven liegen blank. Und dann dringt jemand ins Haus ein, während der Polizeischutz auf dem Boden röchelt… „Cassandras Warnung“ eignet sich nicht zum sonntäglichen Mörderraten. Der Film ist Polizeifilm, Thriller, Beziehungsgeschichte – und dieser „Polizeiruf“ ist ein Spiel mit dem Zuschauer. Günter Schütter bedient sich des „Mord-aus-grauer-Vor-zeit“-Topos, der seit einigen Jahren übermäßig häufig in Krimis Verwendung findet. Der Autor lässt aber nur zwischenzeitlich die Kriminalgeschichte verdächtig wabern und führt den Kommissar bald wieder zur handfesteren Gegenwart zurück. Dieser Exkurs lässt sich retrospektiv als genrekritische Selbstreferenz lesen. Auch einen wunderbaren München-kritischen Exkurs hat der Film anzubieten: Geführt wird er von Doris Kunstmann. Ihre Madame Serrano („wie der Schinken“) sinniert über das heutige „Familienglück“ und die globalisierte Leopoldstraße.
Foto: BR / Walter Wehner
Die Anlage der Story ist für einen „Polizeiruf“ ungewöhnlich, der Handlungsverlauf ist spannend, eine Finalität ist trotz verspielter Exkursionen und Nebengeschichten zu jeder Zeit gegeben. Es sind wie immer bei Dominik Graf (und seinen kongenialen Autoren) die Details, die diesen Film besonders machen, ihn zu einem sinnlichen Gesamtkunstwerk formen. Da wird die Hauptsache zur Nebensache und die Nebensache steht plötzlich im Mittelpunkt. Da diskutiert zum Beispiel Diana Vogt mit ihrem neuen „Beschützer“ Geschlechter- und Weltpolitik („Ich wollte einen Bullen zum Schutz und keinen islamischen Komiker“). Wie beim München-Exkurs hört der Zuschauer belustigt zu, vergisst zwischenzeitlich sogar, dass er sich in einem Krimi befindet. Immer wieder wird die Chronologie aufgebrochen. Aktionen werden nachträglich zeitraffend von den Handelnden erzählt. Das spart Zeit und akzentuiert das Erzählte und gewichtet es. Zusätzlich gewinnt der Film an Informationsdichte durch die Diktiergerät-Manie des Kommissars, der ständig etwas vor sich hin plappert: er kündigt Ermittlungsschritte an oder fasst Ermittlungsergebnisse zusammen. Und über allem liegt auf der Tonspur der Polizeifunk. Das alles gibt dem Film etwas Ruheloses. Getrieben in alle Richtungen: nicht nur aufs Ende hin. Auch in die Tiefe des Raums, der Szene, des Moments.
Fragt sich nur, wie Multitasking-fähig der deutsche Fernsehzuschauer ist. Funktioniert „Cassandras Warnung“ auch, wenn man nicht jedes Detail mitbekommt? Gibt es genügend Reize, die den Zuschauer trotz filmischer Irritationen ausreichend an den Film „binden“? Vermutlich schon: Matthias Brandt gibt einen hoch konzentrierten Einstand. Manch einer wird bedauerlich finden, dass er nur am Ende mal so richtig lächeln und seinen Charme spielen lassen darf. Ronald Zehrfeld bestätigt mit Physis und Spielwitz seine Klasse, die er zuletzt nicht nur in Grafs „Im Angesicht des Verbrechens“ zeigen durfte. Auch Alma Leiberg passt perfekt in das Panoptikum der Sinnlichkeit, wie es „Männerfilmer“ Dominik Graf bevorzugt. Dass im ersten neuen BR-„Polizeiruf 110“ Anna Maria Sturm als künftige Partnerin von Matthias Brandt noch im Hintergrund bleibt, war Buch- und Redaktions-Entscheidung. Dominik Graf wird wohl nichts dagegen gehabt haben. (Text-Stand: 7.7.2011)