Polizeiruf 110 – Black Box

Michelsen, Christ, Bechtolf, Kirchhoff, Holtfreder, Wieland. Ein Jüngling sieht rot

Foto: MDR / Conny Klein
Foto Rainer Tittelbach

Um einen Mord ohne Motiv geht es im „Polizeiruf 110 – Black Box“ (MDR / filmpool fiction), dem fünfzehnten Einsatz von Claudia Michelsen als Kommissarin. Selbst der Täter weiß offenbar nicht, weshalb er einen fremden Mann im Zug mit einem Nothammer brutal zu Tode gedroschen hat. Die Ermittlungsarbeit ist eng mit der seelischen Verfassung der Kommissarin verbunden. Auch sie weiß, wie verhängnisvoll Erinnerungslücken sein können. Das Ermitteln und das Analysieren der Fakten finden vor allem in ihrem Kopf statt. Ein besonderer Reiz liegt in der Diskrepanz zwischen den exzellent recherchierten Ermittlungs-Ergebnissen und den Schlussfolgerungen, die Brasch aus ihnen zieht. So bleibt „Black Box“ – trotz gängiger dramaturgischer Dichotomien – 90 Minuten lang (psychologisch) spannend. Wie immer zuletzt im MDR-„Polizeiruf“ trägt Ausnahmeschauspielerin Michelsen den Film fast im Alleingang, aber auch die Episodendarsteller überzeugen. Hinzu kommen eine kluge Reduktion als Erzählprinzip und eine konzentrierte Szenenabfolge, die sich mit Hilfe einer flüssigen Inszenierung und einer mitunter sinnhaft-sinnlichen Kamera auch gut anschauen lässt. Einziges Manko: Die Konstruktion, die final aufgedeckt werden muss, ist kompliziert. Und der Weg dorthin – voller Gedanken- und Ermittlungssprünge – mitunter auch.

Adam Dahl (Eloi Christ) schwelgt mit seinem Lover Tomi (Kai Müller) im Hochgefühl des Verliebtseins. Sie sitzen im Zug, auf der Heimfahrt von einem Partywochenende in Berlin. Die gute Stimmung ist urplötzlich verflogen, als ein Mann (Helge Tramsen) das Abteil betritt, der lautstark und äußerst aggressiv telefoniert. Sekunden später hat Adam den Nothammer in der Hand und schlägt wie von Sinnen auf den Fremden ein. Später in der Vernehmung durch Doreen Brasch (Claudia Michelsen) weiß er selbst nicht, warum er das getan hat. Der junge Mann wirkt verzweifelt. „Der macht auf unzurechnungsfähig“, behauptet Kriminalrat Lemp (Felix Vörtler). Doch ein Suizidversuch, bei dem die psychisch angeschlagene Kommissarin keine gute Figur macht, scheint Adams Seelenschmerz eher zu bestätigen. Brasch braucht keine Drohungen von Dahl Senior (Sven-Eric Bechtolf), um sich diesem zart besaiteten Täter, dessen Verhalten so unerklärlich ist und dessen Lebensweg offenbar etliche Traumata birgt, in besonderem Maße anzunehmen. Als sich allerdings ihr „Ich werde ihm helfen“ zunehmend in eine Kampfansage an das einflussreiche Ehepaar Dahl umkehrt, jenen LKA-Direktor a.D. und seine Frau (Corinna Kirchhoff), eine einst renommierte Psychologin, steht sie mit ihren Anschuldigungen bald im Abseits. Allein Kollege Günther Márquez (Pablo Grant) arbeitet ihr weiterhin zu. Die Kommissarin will beweisen, dass Adam eben nicht – wie seine Mutter behauptet – „die beste Kindheit, die man einem Kind nur angedeihen lassen kann“ hatte.

Polizeiruf 110 – Black BoxFoto: MDR / Conny Klein
„Ich will noch nicht, dass es vorbei ist.“ Die Beziehung zwischen Tomi (Kai Müller) und Adam (Eloi Christ) hat keine Zukunft. Dafür wird Adams Vater schon sorgen.

Die Ermittlungsarbeit im „Polizeiruf 110 – Black Box“ ist eng mit der seelischen Verfassung der Kommissarin verbunden. Auch sie, die in einem Prozess vor Gericht gegen ihren Peiniger aus „Der Verurteilte“, dem vorangegangenen „Polizeiruf“ aus Halle, aussagen muss, weiß, was Erinnerungslücken sind. Und wie schrecklich sich diese anfühlen für eine professionelle Wahrheitssuchende, die gern alles unter Kontrolle hat: Auch Doreen Brasch scheint in einem Trauma gefangen zu sein, doch mit frischer Luft und offenen Zimmertüren allein wird sie ihr Problem kaum in den Griff bekommen. Noch lehnt sie in der ihr eigenen Art für sich therapeutische Hilfe ab („Ich gehe zu niemandem, der Bräunlich heißt“), für ihren Täter nimmt sie sie indes gern an. Adam Dahl wird in Hypnose versetzt, während die Kommissarin zum Thema Erinnerung recherchiert. Dabei wird – ganz ähnlich wie unlängst in dem um das Thema Demenz kreisenden „Tatort – Flash“ – das Gedächtnis als „ein fehlerhaftes, leicht manipulierbares System“ erkannt. Als sich die Kommissarin schließlich mit den Methoden Bianca Dahls, die als „Master of Memory“ gefeiert wird, vertraut macht, hat Brasch eine neue Theorie über den Fall. Adam Dahl muss etwas Schreckliches in seiner Kindheit passiert sein. Hat womöglich die eigene Mutter die unangenehmen Erlebnisse des Jungen mit Hilfe von therapeutischen Interventionen gelöscht? Oder sind das nur Hirngespinste einer überspannten Ermittlerin, der der „gesunde Menschenverstand“ mehr und mehr abhandenkommt?

Polizeiruf 110 – Black BoxFoto: MDR / Conny Klein
Kaffee und Kuchen im Hause Dahl. Brasch (Claudia Michelsen) stört die inszenierte Harmonie. Was nach Klitterung der familiären Fassade aussieht, erfährt retrospektiv betrachtet – ähnlich wie die gängige David-gegen-Goliath-Dramaturgie – eine etwas andere Bewertung. Gute Episoden-Schauspieler: Sven-Eric Bechtolf als Dahl Senior, Corinna Kirchhoff als Adams Mutter, Eloi Christ als Adam und Julia Blankenburg

Dass psychisch angeschlagene Kommissare nicht unfehlbar sind, davon haben im Juni auch die beiden „Tatort“-Episoden „Das kalte Haus“ und „In seinen Augen“ erzählt. In „Black Box“ nun wird der Handlungsverlauf vom Instinkt der Einzelgängerin Brasch bestimmt. Das Ermitteln und das Analysieren der Fakten finden vor allem in ihrem Kopf statt. Das ist mehr als Intuition, mehr als bloße Eingebung, und es spiegelt sich darin mehr als eine Haltung („Wer reich ist hat recht“). Ein besonderer Reiz liegt in der Diskrepanz zwischen den Ermittlungsergebnissen und den Schlussfolgerungen, die Brasch aus ihnen zieht. So bleibt „Black Box“ neunzig Minuten lang (psychologisch) spannend. Den Wunsch des Zuschauers, möglichst rasch alles vollständig zu verstehen, befriedigt die Autorin Zora Holtfreder alias Zora Holt („Unter anderen Umständen“ / „In Wahrheit“) nicht. Die Heldin wühlt in der Vergangenheit, ermittelt kriminalistisch exzellent, verheddert sich dann aber bei der Schuldfrage. Dieser „Polizeiruf“ nutzt die Solo-Ermittlungs-Situation in psychologischer Hinsicht äußerst stimmig. Mit einem Krimi-Duo, bei dem der Partner als Korrektiv fungiert, ließe sich eine solche Geschichte nicht erzählen. Dramaturgisch setzt die Autorin allerdings auf gängige Dichotomien: Macht vs. Ohnmacht, David gegen Goliath, Chef vs. Untergebene, Fakten vs. Intuition. Die Auflösung der Geschichte vermag diese narrativen Funktions-Prinzipien am Ende nur punktuell zu relativieren. Zu dieser filmischen Versuchsanordnung in Sachen behavioristische Psychologie passt der Filmtitel eigentlich vorzüglich; nur schade, dass mit Hinblick auf das eher konservative deutsche Krimi-Millionen-Publikum alles bis in die kleinste Nuance erklärt wird, was zwangsläufig zu einer Banalisierung psychologischer Vorgänge führt. So bleibt vom Geheimnis der „Black Box“ Mensch am Ende nichts übrig.

Polizeiruf 110 – Black BoxFoto: MDR / Conny Klein
Ein Verhör mit Folgen. Der geständige Adam Dahl (Eloi Christ) hat weder eine Erklärung für seine brutale Tat, noch kann er sich an die Situation im Zug erinnern. Kommissarin Brasch (Claudia Michelsen) spürt eine Verbindung zu diesem offenbar traumatisierten jungen Mann, dessen Verzweiflung in einem Suizidversuch gipfelt.

Wie immer zuletzt im MDR-„Polizeiruf“ trägt Claudia Michelsen auch in dem Film von Ute Wieland („Die Rebellin“ / „Eisland“) mit ihrem kaum merklichen und deshalb so beeindruckenden Mienenspiel jede Minute dieses weitgehend überzeugenden Krimidramas. Hinzu kommen eine kluge Reduktion als Erzählprinzip und eine konzentrierte Szenenabfolge, die sich mit Hilfe einer flüssigen filmischen Inszenierung und einer mitunter sinnhaft-sinnlichen Kamera (Eeva Fleig) auch gut anschauen lässt. Fein austariert, ohne typisch deutsche Projektionsausrufezeichen und nicht bedeutungsschwer überdramatisiert, wird die seelische Verbindung zwischen Kommissarin und Täter dargestellt. Eine Klasse für sich sind auch die Schauspieler der Episodenhauptrollen (Eloi Christ, Sven-Eric Bechtolf, Corinna Kirchhoff). Ein (gefühltes) Manko gibt es allerdings: Die Konstruktion, die am Ende aufgedeckt werden muss, ist kompliziert. Dabei ist es weniger die Über-Konstruktion, die den Kritiker stört, als vielmehr das, was daraus für die Rezeption der Geschichte folgt: was diese Konstruktion also wahrnehmungspsychologisch für den Zuschauer bedeutet. So erweisen sich die Ermittlungssprünge der Kommissarin im Vorfeld als mitunter anstrengend. Es fragt sich, ob die Zuschauer Braschs Gedankensprüngen immer folgen können. (Text-Stand: 13.6.2022)

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Reihe

MDR

Mit Claudia Michelsen, Felix Vörtler, Eloi Christ, Sven-Eric Bechtolf, Corinna Kirchhoff, Pablo Grant, Kai Müller, Julia Blankenburg, Susanne Böwe, Helge Tramsen

Kamera: Eeva Fleig

Szenenbild: Frank Polosek

Kostüm: Elena Wegner

Schnitt: Dunja Camprehger

Redaktion: Denise Langenhan

Produktionsfirma: filmpool fiction

Produktion: Iris Kiefer

Drehbuch: Zora Holtfreder

Regie: Ute Wieland

Quote: 5,83 Mio. Zuschauer (23,8% MA)

EA: 03.07.2022 20:15 Uhr | ARD

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