Adam Dahl (Eloi Christ) schwelgt mit seinem Lover Tomi (Kai Müller) im Hochgefühl des Verliebtseins. Sie sitzen im Zug, auf der Heimfahrt von einem Partywochenende in Berlin. Die gute Stimmung ist urplötzlich verflogen, als ein Mann (Helge Tramsen) das Abteil betritt, der lautstark und äußerst aggressiv telefoniert. Sekunden später hat Adam den Nothammer in der Hand und schlägt wie von Sinnen auf den Fremden ein. Später in der Vernehmung durch Doreen Brasch (Claudia Michelsen) weiß er selbst nicht, warum er das getan hat. Der junge Mann wirkt verzweifelt. „Der macht auf unzurechnungsfähig“, behauptet Kriminalrat Lemp (Felix Vörtler). Doch ein Suizidversuch, bei dem die psychisch angeschlagene Kommissarin keine gute Figur macht, scheint Adams Seelenschmerz eher zu bestätigen. Brasch braucht keine Drohungen von Dahl Senior (Sven-Eric Bechtolf), um sich diesem zart besaiteten Täter, dessen Verhalten so unerklärlich ist und dessen Lebensweg offenbar etliche Traumata birgt, in besonderem Maße anzunehmen. Als sich allerdings ihr „Ich werde ihm helfen“ zunehmend in eine Kampfansage an das einflussreiche Ehepaar Dahl umkehrt, jenen LKA-Direktor a.D. und seine Frau (Corinna Kirchhoff), eine einst renommierte Psychologin, steht sie mit ihren Anschuldigungen bald im Abseits. Allein Kollege Günther Márquez (Pablo Grant) arbeitet ihr weiterhin zu. Die Kommissarin will beweisen, dass Adam eben nicht – wie seine Mutter behauptet – „die beste Kindheit, die man einem Kind nur angedeihen lassen kann“ hatte.
Die Ermittlungsarbeit im „Polizeiruf 110 – Black Box“ ist eng mit der seelischen Verfassung der Kommissarin verbunden. Auch sie, die in einem Prozess vor Gericht gegen ihren Peiniger aus „Der Verurteilte“, dem vorangegangenen „Polizeiruf“ aus Halle, aussagen muss, weiß, was Erinnerungslücken sind. Und wie schrecklich sich diese anfühlen für eine professionelle Wahrheitssuchende, die gern alles unter Kontrolle hat: Auch Doreen Brasch scheint in einem Trauma gefangen zu sein, doch mit frischer Luft und offenen Zimmertüren allein wird sie ihr Problem kaum in den Griff bekommen. Noch lehnt sie in der ihr eigenen Art für sich therapeutische Hilfe ab („Ich gehe zu niemandem, der Bräunlich heißt“), für ihren Täter nimmt sie sie indes gern an. Adam Dahl wird in Hypnose versetzt, während die Kommissarin zum Thema Erinnerung recherchiert. Dabei wird – ganz ähnlich wie unlängst in dem um das Thema Demenz kreisenden „Tatort – Flash“ – das Gedächtnis als „ein fehlerhaftes, leicht manipulierbares System“ erkannt. Als sich die Kommissarin schließlich mit den Methoden Bianca Dahls, die als „Master of Memory“ gefeiert wird, vertraut macht, hat Brasch eine neue Theorie über den Fall. Adam Dahl muss etwas Schreckliches in seiner Kindheit passiert sein. Hat womöglich die eigene Mutter die unangenehmen Erlebnisse des Jungen mit Hilfe von therapeutischen Interventionen gelöscht? Oder sind das nur Hirngespinste einer überspannten Ermittlerin, der der „gesunde Menschenverstand“ mehr und mehr abhandenkommt?
Dass psychisch angeschlagene Kommissare nicht unfehlbar sind, davon haben im Juni auch die beiden „Tatort“-Episoden „Das kalte Haus“ und „In seinen Augen“ erzählt. In „Black Box“ nun wird der Handlungsverlauf vom Instinkt der Einzelgängerin Brasch bestimmt. Das Ermitteln und das Analysieren der Fakten finden vor allem in ihrem Kopf statt. Das ist mehr als Intuition, mehr als bloße Eingebung, und es spiegelt sich darin mehr als eine Haltung („Wer reich ist hat recht“). Ein besonderer Reiz liegt in der Diskrepanz zwischen den Ermittlungsergebnissen und den Schlussfolgerungen, die Brasch aus ihnen zieht. So bleibt „Black Box“ neunzig Minuten lang (psychologisch) spannend. Den Wunsch des Zuschauers, möglichst rasch alles vollständig zu verstehen, befriedigt die Autorin Zora Holtfreder alias Zora Holt („Unter anderen Umständen“ / „In Wahrheit“) nicht. Die Heldin wühlt in der Vergangenheit, ermittelt kriminalistisch exzellent, verheddert sich dann aber bei der Schuldfrage. Dieser „Polizeiruf“ nutzt die Solo-Ermittlungs-Situation in psychologischer Hinsicht äußerst stimmig. Mit einem Krimi-Duo, bei dem der Partner als Korrektiv fungiert, ließe sich eine solche Geschichte nicht erzählen. Dramaturgisch setzt die Autorin allerdings auf gängige Dichotomien: Macht vs. Ohnmacht, David gegen Goliath, Chef vs. Untergebene, Fakten vs. Intuition. Die Auflösung der Geschichte vermag diese narrativen Funktions-Prinzipien am Ende nur punktuell zu relativieren. Zu dieser filmischen Versuchsanordnung in Sachen behavioristische Psychologie passt der Filmtitel eigentlich vorzüglich; nur schade, dass mit Hinblick auf das eher konservative deutsche Krimi-Millionen-Publikum alles bis in die kleinste Nuance erklärt wird, was zwangsläufig zu einer Banalisierung psychologischer Vorgänge führt. So bleibt vom Geheimnis der „Black Box“ Mensch am Ende nichts übrig.
Wie immer zuletzt im MDR-„Polizeiruf“ trägt Claudia Michelsen auch in dem Film von Ute Wieland („Die Rebellin“ / „Eisland“) mit ihrem kaum merklichen und deshalb so beeindruckenden Mienenspiel jede Minute dieses weitgehend überzeugenden Krimidramas. Hinzu kommen eine kluge Reduktion als Erzählprinzip und eine konzentrierte Szenenabfolge, die sich mit Hilfe einer flüssigen filmischen Inszenierung und einer mitunter sinnhaft-sinnlichen Kamera (Eeva Fleig) auch gut anschauen lässt. Fein austariert, ohne typisch deutsche Projektionsausrufezeichen und nicht bedeutungsschwer überdramatisiert, wird die seelische Verbindung zwischen Kommissarin und Täter dargestellt. Eine Klasse für sich sind auch die Schauspieler der Episodenhauptrollen (Eloi Christ, Sven-Eric Bechtolf, Corinna Kirchhoff). Ein (gefühltes) Manko gibt es allerdings: Die Konstruktion, die am Ende aufgedeckt werden muss, ist kompliziert. Dabei ist es weniger die Über-Konstruktion, die den Kritiker stört, als vielmehr das, was daraus für die Rezeption der Geschichte folgt: was diese Konstruktion also wahrnehmungspsychologisch für den Zuschauer bedeutet. So erweisen sich die Ermittlungssprünge der Kommissarin im Vorfeld als mitunter anstrengend. Es fragt sich, ob die Zuschauer Braschs Gedankensprüngen immer folgen können. (Text-Stand: 13.6.2022)